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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld322
Geschwister in und durch die verschiedensten, sozial unterschiedlich codier-
ten Stadtteile (vgl. etwa MoE 1095 f., 1204 u. 1210) ; oder aber â um eine gĂ€nz-
lich dichotomische GegenĂŒberstellung zu skizzieren â an die altehrwĂŒrdige
kaiserliche Hofburg als Inbegriff sozialer ZentralitÀt und Macht (vgl. MoE
83 f.) im Unterschied zum marginalen Ort des Moosbruggerâschen Mordes
im Wiener Prater (vgl. MoE 73)191, dem zumindest in der literarischen Topik
bevorzugten BetĂ€tigungsraum der groĂstĂ€dtischen Unterwelt.192 Im Abstand
zu diesem schlecht beleumundeten âRand der Stadtâ mit seinen âdĂŒstere[n]
StraĂe[n]â (MoE 73) erfĂ€hrt Ulrich im innersten topografischen Zentrum ka-
kanischer Macht auch deren steingewordene rÀumliche Manifestation :
Das erste, was [âŠ] geschah, als Ulrich zur kaiserlichen Hofburg fuhr, war, daĂ der
Wagen, der ihn dahin bringen sollte, schon im Ă€uĂeren Burghof anhielt, und es be-
gehrte der Kutscher abgelohnt zu werden, indem er behauptete, daĂ er zwar durch-
fahren, aber im inneren Hof nicht stehenbleiben dĂŒrfe. Ulrich Ă€rgerte sich ĂŒber den
Kutscher, den er fĂŒr einen Schwindler oder einen HasenfuĂ hielt, und suchte ihn
anzutreiben ; aber er verblieb ohnmĂ€chtig gegenĂŒber dessen Ă€ngstlicher Weigerung,
und plötzlich fĂŒhlte er in ihr die Ausstrahlung einer Gewalt, die mĂ€chtiger war als er.
Als er den inneren Hof betrat, fielen ihm darauf die zahlreichen roten, blauen, weiĂen
und gelben Röcke, Hosen und HelmbĂŒsche sehr in die Augen, die dort steif in der
Sonne standen wie Vögel auf einer Sandbank. Er hatte bis dahin âDie MajestĂ€tâ fĂŒr
eine bedeutungslose Redewendung gehalten, die man eben noch beibehalten hat, ge-
radeso wie man ein Atheist sein kann und doch âGrĂŒĂ Gottâ sagt ; nun aber strich sein
Blick an hohen Mauern empor, und er sah eine Insel grau, abgeschlossen und bewaff-
net daliegen, an der die Schnelligkeit der Stadt ahnungslos vorbeischoĂ. (MoE 83 f.)
Selbst wenn der kritische Intellektuelle nicht gewillt ist, die historisch ge-
wachsenen architektonischen Ausdrucksformen politischer Macht als sol-
che hinzunehmen, bleibt ihm â einem trotz seiner âsehr guten Kleidungâ hier
âvon jedem Blick, dem er begegnete, vollkommen richtig eingeschĂ€tzt[en]â
Angehörigen des BĂŒrgertums â angesichts der unerwarteten Erfahrung eige-
191 Vgl. dazu die anregenden sozialtopografischen Beobachtungen in Fliedl : Nachwort [zu Arthur
Schnitzler : Lieutenant Gustl], S. 76â80. Eine eher kultur- als sozialgeschichtlich ausgerichtete
genauere Analyse der Sozialtopografie zentraler Viertel Wiens um 1900 findet sich in Schorske :
Wien, S. 23â109.
192 Im Zusammenhang des Praterareals ist auf die spezifische Ărtlichkeit des (im Mann ohne Ei-
genschaften nicht eigens thematisierten) âWurstelpratersâ hinzuweisen â ein VergnĂŒgungspark,
der als veritable Heterotopie im Sinne Foucaults gelten kann. Vgl. dazu den historischen Text
sowie die AufsÀtze im Anhang zu Salten : Wurstelprater.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208