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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld326
sie einerseits etwa âdie jungen Geisterâ, auf die sie durchaus nicht generell
verzichten will, âdurch gesonderte Einladungen abseitsâ204 und versteht an-
dererseits, âseltene oder besondre GĂ€ste [âŠ] unauffĂ€llig zu bevorzugen und
einzurahmenâ (MoE 100). Sie bedient sich dabei einer Macht, die aus ihrer
Funktion als Gastgeberin hervorgeht :
Einer der Vorteile, den die VerfĂŒgungsmacht ĂŒber Raum verschafft, ist die Möglichkeit,
Dinge oder Menschen auf (physische) Distanz zu halten, die stören oder in MiĂkredit
bringen, indem sie den [âŠ] ZusammenstoĂ von sozial unvereinbaren Weisen des Seins
oder Tuns provozieren oder den visuellen und auditiven Wahrnehmungsraum mit Spek-
takel und LĂ€rm ĂŒberziehen, die, da sozial markiert und negativ konnotiert, zwangslĂ€ufig
als unerwĂŒnschtes Eindringen oder selbst als Aggression erfahren werden.205
Mithilfe ihrer vorauseilenden sozialen und generationellen Selektion, die grö-
bere Konflikte von vornherein ausschlieĂt, befördert Diotima freilich jene von
Musil an den verschiedenen âintellektuellen Gruppenâ kritisch ausgemachte
âIntention, Scheinwelten weltanschaulich zu verfestigenâ.206
AbschlieĂend sei noch darauf hingewiesen, dass die zumindest stre-
ckenweise vorherrschende Konzentration Musils auf die ErzÀhlkomplexe
âJugend freundeâ (Walter und Clarisse), âFamilie Fischelâ sowie vor allem âPa-
rallelaktionâ (Diotimas Salon, in dem sich zentrale KrĂ€fte des kakanischen
Macht-Feldes gleichsam kondensieren) insbesondere im Ersten Romanbuch
eine gewisse soziale Schwerpunktbildung bewirkt, wodurch die Romanhand-
lung keine âwirklicheâ soziologische ReprĂ€sentativitĂ€t fĂŒr die gesamte darge-
stellte Zeit und Gesellschaft beanspruchen kann, zumal proletarische und
subproletarische Gesellschaftsschichten aus der Darstellung weitgehend aus-
geschlossen bleiben.207 Der ErzÀhler selbst thematisiert die soziale Exzentrizi-
tÀt und mithin RelativitÀt der intellektuellen Verschiebungen, die ihn interes-
sieren, am Beispiel des âgeistigen Umsturzesâ der Jahrhundertwende :
204 Die soziale âNotwendigkeitâ einer Absonderung junger Menschen, deren Bekanntschaft und
Teilnahme Diotima zwecks âEinströmungâ âneuesten Geist[es] in die Parallelaktionâ zwar
durchaus erwĂŒnscht, die sie aber angesichts der mit ihrer innovativen oder gar revolutionĂ€ren
Gesinnung einhergehenden RadikalitĂ€t und âManierenlosigkeitâ zu separaten Veranstaltungen
einlĂ€dt, erweist sich etwa in der âetwas unmanierlichen Debatteâ, die Arnheim mit der bo-
hemehaften, âhöchst unterhaltsame[n] Gesellschaftâ UnterdreiĂigjĂ€hriger in Diotimas Salon
fĂŒhrt (MoE 401â403).
205 Bourdieu : Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, S. 31.
206 So Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 224.
207 Vgl. Stern : Die Wiener âWirklichkeitâ im Roman âDer Mann ohne Eigenschaftenâ, S. 528.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208