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339âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
bekanntlich im Unterschied zur Schuld vor den anderen empfunden wird â [âŠ]
in ihrem wahren Wesen aktueller oder potentieller Gewalt von den anderen
MÀnnern bestÀtigt oder durch die anerkannte Zugehörigkeit zur Gruppe der
âwahren MĂ€nnerâ beglaubigt werdenâ muss46, dann bedeutet die skizzierte
Umkehrung der Vorzeichen im mitteleuropÀischen Judentum eine veritable
Bedrohung des geltenden hegemonialen MĂ€nnlichkeitsmodells bzw. wird
sie mit gewisser Wahrscheinlichkeit als solche empfunden. Wie nicht allein
Bourdieu weiĂ, haben die ostensibelsten Vorstellungen von unkorrumpierter
StĂ€rke und VirilitĂ€t âparadoxerweise ihren Grund in der Angst. Man fĂŒrch-
tet die Achtung oder die Bewunderung der Gruppe zu verlieren, vor den
âKumpelnâ âdas Gesicht zu verlierenâ und in die typisch weibliche Kategorie
der âSchwachenâ, der âSchwĂ€chlingeâ, der âWaschlappenâ, der âSchwulenâ usf.
eingeordnet zu werden. So wurzelt, was man âMutâ nennt, bisweilen in ei-
ner Form von Feigheit.â47 Insofern befinden sich die strukturell defensiv agie-
renden Vertreter des Antifeminismus wie des Antisemitismus in einem be-
stĂ€ndigen Wettbewerb um gröĂtmögliche HĂ€rte und Gewaltbereitschaft, der
schlieĂlich im ungebremsten âAusbruch des MĂ€nnlichkeitswahns im Sommer
1914â48 gipfeln sollte, auf den ja das Narrativ des Mann ohne Eigenschaften aus-
gerichtet ist. Musil analysiert diese Dialektik am Beispiel von Hans Sepp und
Meingast, wĂ€hrend er den âschwachenâ und wehrlosen (un)mĂ€nnlichen Juden
in der Figur Leo Fischels portrÀtiert. Seinen sportlich-athletischen Protago-
nisten Ulrich hingegen zeichnet er insofern als zeittypischen Mann49, als er
ihm âdie verschiedenen Formen der libido dominandiâ von der Misogynie ĂŒber
die Sportbegeisterung bis hin zur sublimiertesten Form der âlibido sciendiâ
einschreibt50, ihn zugleich aber mit einem gewissen Leidensdruck angesichts
des eigenen UngenĂŒgens an den historischen Ausdrucksformen âgangbare[r]
MĂ€nnlichkeitâ ausstattet :
46 Ebd., S. 94.
47 Ebd., S. 95 f.
48 Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 260.
49 Mehr dazu in Fleig : Körperkultur und Moderne, S. 217â234 ; Kappeler : Versuche, ein Mann zu
werden, S. 340â342.
50 Die Zitate (nicht aber die Argumente) beziehen sich auf Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft,
S. 100. Nach Bourdieu : Meditationen, S. 142, sind die Akteure im (relativ) autonomen wis-
senschaftlichen Feld gezwungen, âausschlieĂlich die den wissenschaftlichen Anforderungen der
Disziplin genĂŒgenden Instrumente der Diskussion oder des Beweises [âŠ] zu benutzen, und also
verpflichtet [âŠ], ihre libido dominandi zu einer libido sciendi zu sublimieren, die nur unter der Be-
dingung triumphieren kann, daĂ sie einem Beweis eine Widerlegung, einer wissenschaftlichen
Tatsache eine andere wissenschaftliche Tatsache entgegenstellt.â Vgl. auch ebd., S. 20.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208