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343âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
der âmĂ€nnlichen Herrschaftâ, der zufolge auch in modernen Gesellschaften
âeinige der Mechanismen, auf denen diese Herrschaft basiert, nach wie vor
[funktionieren]. Zu ihnen zÀhlt etwa die zirkulÀre Kausalbeziehung zwischen
den objektiven Strukturen des sozialen Raumes und den Dispositionen, die
sie bei den MĂ€nnern wie bei den Frauen hervorbringen.â61 Dementsprechend
handelt es sich bei der erzÀhlten wie bei der ErzÀhlzeit von Musils Epochen-
roman um Perioden des Wandels, in denen sich vieles im Fluss befindet, aber
ein âZielâ der Entwicklung keineswegs absehbar ist, geschweige denn feststeht.
Im Gegenteil : Genauso, wie die unterschiedlichen Konzepte von MĂ€nnlich-
keit â respektive Weiblichkeit â im kulturellen Feld Gegenstand heftiger Aus-
einandersetzungen um die Definitionsmacht sind, finden sie sich im Mann
ohne Eigenschaften als Kristallisationspunkte romaninterner Verhandlungen
und Kontroversen, aber eben auch konkreter MachtverhÀltnisse wieder und
erhalten somit eine bemerkenswerte textuelle Resonanz.
Um die literarische Gestaltung der GeschlechterverhÀltnisse im Rahmen
des essayistischen Romans methodisch adÀquat beschreiben zu können, be-
darf es wiederum des Rekurses auf dessen spezifische konzeptionelle Grundla-
gen : âNatĂŒrlich sind alle Menschen ohne Eigenschaften, aber an Ulrich wird es
sichtbar.â (M VII/17/48) Was nur an diesem so klar âsichtbarâ ist, erweist sich
als ĂŒberall angelegt. Die anderen Vertreter von Musils Romanpersonal fungie-
ren sĂ€mtlich als âKomplementĂ€rfiguren der Hauptideeâ62, an deren Beispiel die
insgesamt erkenntnisleitende Problematik der âGestalt-â oder âEigenschaftslo-
sigkeitâ auf die eine oder andere Weise, aber immer nach der gestalterischen
MaĂgabe von âAnalogie und Variationâ63 veranschaulicht wird. Besonders of-
fensichtlich zeigt sich das bei den mÀnnlichen Figuren, in denen sich jeweils
bestimmte â aber niemals alle â Aspekte der âgenerativen Formelâ Ulrichs in
unterschiedlicher Ausformung und StÀrke spiegeln, wÀhrend bei den Frauenfi-
guren die Akzente mit RĂŒcksicht auf die historischen Geschlechterrollen ten-
denziell anders gesetzt erscheinen. Gemeinsam sind sÀmtliche Romanfiguren
im ontologischen Sinn âgestalt-â bzw. âeigenschaftslosâ, gehen mit dieser nega-
tiven QualitÀt jedoch ganz verschieden um, wobei die Differenz der Strategien
in einem kontinuierlichen âRaum des Möglichenâ64 zwischen den Extremen
61 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 100 f.
62 Vgl. bereits einen Eintrag in Musils unnummeriertem Arbeitsheft, der zur Kritik am damaligen
Stand des Spion-Projekts festhĂ€lt : âMan muĂ noch beliebige Figuren nehmen und zwar Komple-
mentĂ€rfiguren der Hauptidee und diese dann [âŠ] sich bis ins kleinste vorstellen.â (Tb 1, 348)
63 So die glĂŒckliche Formel von KĂŒhn : Analogie und Variation.
64 Vgl. dazu Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 371â378, wo es allerdings nicht um literarisch
konstruierte, sondern um ârealeâ Gesellschaften geht.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208