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352 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
rich als Angehöriger des arrivierten BĂŒrgertums, genauer : der zweiten Gene-
ration nach dem Aufstieg, auf charakteristische Weise sowohl die Pflege des
ökonomischen wie auch des sozialen Kapitals vernachlÀssigt und sich allein
der Akkumulation des kulturellen Kapitals widmet. Eine unabdingbare Vor-
aussetzung dafĂŒr ist die Erfahrung des Heranwachsenden, sich um das öko-
nomische Kapital nicht kĂŒmmern zu mĂŒssen, insbesondere die vom ErzĂ€hler
ausdrĂŒcklich erwĂ€hnte Tatsache, dass Ulrich das Geldverdienen ânicht nötig
hatteâ (MoE 47).
Seine eigenen Investitionen ins kulturelle Kapital haben ihre Vorgeschichte
in der vorausschauenden vÀterlichen Auswahl seiner Schulen : Ulrich wurde
zunĂ€chst im âvornehmen Gymnasium der Theresianischen Ritterakademie
erzogen, das die edelsten Spitzen des Staates lieferteâ (MoE 19), mithin in
der fĂŒhrenden Bildungsanstalt Kakaniens. Nach einem schulischen Eklat
wechselte er âin ein kleines belgisches Erziehungsinstitut, das in einer un-
bekannten Stadt lag und, mit kluger kaufmÀnnischer Betriebsamkeit verwal-
tet, bei billigen Preisen einen groĂen Umsatz an entgleisten SchĂŒlern hatteâ
(MoE 19). Wie die erzÀhlerische Ironie durchklingen lÀsst, erlaubt es die in-
ternationale Anstalt, das in Form von vergleichsweise geringem Schulgeld
eingesetzte ökonomische Kapital relativ vorteilhaft in kulturelles Kapital zu
konvertieren. Die weiteren Stationen von Ulrichs Werdegang lassen sich mit
folgenden Stichworten umreiĂen : 1. Offiziersausbildung, in der er es âbis
zum Leutnant gebracht hatteâ (MoE 36), 2. Ingenieurstudium an der Tech-
nischen Hochschule und schlieĂlich 3. Studium der Mathematik â eine Ent-
scheidung gleichermaĂen fĂŒr die UniversitĂ€t wie fĂŒr das Doktorat und damit
fĂŒr die oberste Bildungsinstitution und den ranghöchsten Studienabschluss
der Habsburgermonarchie. Es ist fĂŒr die modernistische Grundhaltung des
Romans bezeichnend, dass Ulrichs theoretisches Interesse sich nicht auf die
konkurrierende Grundlagenwissenschaft richtet : Im Unterschied zur âaltenâ
und seinerzeit nicht sonderlich attraktiven Philosophie94, in der Musil â ĂŒbri-
gens ebenfalls im Alter von 27 Jahren (vgl. MoE 673) â promoviert hat, wird
die nicht minder abstrakte, aber ungleich genauere Mathematik als âdie neue
Denkrichtung selbst, der Geist selbstâ gefeiert, denn in ihr âliegen die Quel-
len der Zeit und der Ursprung einer ungeheuerlichen Umgestaltungâ (MoE
39). Das Berufsbild des Mathematikers (vgl. MoE 19) bzw. des theoretischen
94 Vgl. etwa den ErzĂ€hlerkommentar im Kapitel 13 des Ersten Buchs : â[D]ie Philosophie in dem
Zustand, worin sie sich damals befand, erinnerte ihn an die Geschichte der Dido, wo eine Och-
senhaut auf Riemen geschnitten wird, wÀhrend es sehr ungewià blieb, ob man auch wirklich ein
Königreich damit umspanntâ (MoE 47).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208