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353âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Physikers95 entspricht dieser Logik zufolge am besten den Erfordernissen
eines âmodernenâ Romanhelden, der gemeinsam mit seiner Einsicht in die
wissenschaftlichen Grundlagen der Welt jenes im Doktortitel geronnene kul-
turelle Kapital erwirbt, das fĂŒr den Sohn eines nobilitierten BildungsbĂŒrgers
die beste nichtvererbbare Voraussetzung ist, um auĂerhalb der UniversitĂ€t zu
reĂŒssieren. Doch bevor es so weit kommt, hebt der ErzĂ€hler eigens hervor :
Es ist nicht unwesentlich, daĂ sich Ulrich sagen durfte, in seiner Wissenschaft nicht
wenig geleistet zu haben. Seine Arbeiten hatten ihm auch Anerkennung eingebracht.
Bewunderung wÀre zu viel verlangt gewesen, denn selbst im Reiche der Wahrheit
hegt man Bewunderung nur fĂŒr Ă€ltere Gelehrte, von denen es abhĂ€ngt, ob man die
Habilitation und Professur erreicht oder nicht. Genau gesprochen, er war das geblie-
ben, was man eine Hoffnung nennt, und Hoffnungen nennt man in der Republik der
Geister die Republikaner, das sind jene Menschen, die sich einbilden, man dĂŒrfe seine
ganze Kraft der Sache widmen, statt einen groĂen Teil von ihr auf das Ă€uĂere Vor-
wÀrtskommen zu verwenden ; sie vergessen, daà die Leistung des Einzelnen gering,
das VorwÀrtskommen dagegen ein Wunsch aller ist, und vernachlÀssigen die soziale
Pflicht des Strebens, bei der man als ein Streber beginnen muĂ, damit man in den
Jahren des Erfolgs eine StĂŒtze und Strebe abgeben kann, an deren Gunst sich andere
emporarbeiten. (MoE 44)
Die ironische ErzĂ€hlerrede von der âsozialen Pflicht des Strebensâ bezeichnet
die leidige Notwendigkeit, im wissenschaftlichen Werdegang die Pflege des
sozialen Kapitals nicht zu vernachlĂ€ssigen. Als Aufweis der fĂŒr Ulrichs Karri-
ere kaum förderlichen wissenschaftlichen Konzentration auf die âSacheâ ist sie
ĂŒberdies dazu angetan, seine uneigennĂŒtzige, allein auf Erkenntnis gerichtete
Haltung zu charakterisieren96, die ihn im weiteren Verlauf des Romans zwar
wiederholt auszeichnen, aber zugleich davor bewahren wird, an der Univer-
sitÀt eine Dozentur zu erlangen (vgl. MoE 682). Eine solche Interesselosig-
95 Vgl. Kittler : Der Zustand des Romans im Zeitalter der Zustandsgleichung, S. 200.
96 Nicht von ungefÀhr beklagt Ulrichs Vater im (unten noch nÀher diskutierten) Mahnbrief am
Ende des Ersten Teils, dass sein Sohn ânie [âŠ] von einer Befriedigungâ schreibe, die ihm âein
Lehrauftrag gewĂ€hren wĂŒrde, noch von einer FĂŒhlungnahme wegen solcher PlĂ€ne mit irgendei-
ner UniversitĂ€t, noch sonst von FĂŒhlung mit maĂgebenden Kreisenâ (MoE 77). Als erfolgreicher
Wissenschaftler vermöge der von âden Erfahrungen eines arbeitsreichen Lebensâ zehrende Va-
ter nicht âanzuerkennen, daĂ man sich nur auf sich selbst stelle und die wissenschaftlichen und
gesellschaftlichen Beziehungen vernachlĂ€ssige, welche der Arbeit des Einzelnen erst den RĂŒck-
halt leihen, durch welchen sie in einen fruchtbaren und förderlichen Zusammenhang gerĂ€t.â
(MoE 77 f.)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208