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359âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Von so starken GefĂŒhlen wie âHaĂâ ist bei Ulrich freilich nirgends die Rede.
Und der durch den Vater veranlasste Schulwechsel in das bereits erwÀhnte
belgische Erziehungsinstitut bleibt selber nicht ohne ungewollte Konsequen-
zen, denn : âDort lernte Ulrich, seine MiĂbilligung der Ideale anderer interna-
tional zu erweitern.â (MoE 19) Sowohl die ironische Haltung gegenĂŒber dem
Patriotismus und einer dogmatisch verfestigten Religion als auch seine Skep-
sis gegenĂŒber groĂen Idealen generell weisen Ulrich schon zu diesem frĂŒhen
Zeitpunkt als zukĂŒnftigen Intellektuellen aus, dessen Habitus der Distanziert-
heit112 in der fĂŒr damalige bĂŒrgerliche VerhĂ€ltnisse vergleichsweise frĂŒhen und
intensiven Erfahrung der InternationalitÀt eine passende ErgÀnzung fand.
Doch bereits zuvor hatte er Erfahrungen gemacht, die seine Habitusent-
wicklung prÀgten. So kannte er aufgrund der geschilderten Beziehungen sei-
nes Vaters zur hohen Aristokratie deren âTalent eines fast unbewuĂt, aber
sicher wĂ€genden Hochmuts von Jugend aufâ, mit anderen Worten : Er war
mit dem adeligen Habitus, der aus einer scheinbar angeborenen Selbstsicher-
heit heraus stets âdas MaĂ einer Freundlichkeit gerade richtig bemiĂtâ, seit
seiner frĂŒhesten Zeit vertraut (MoE 14). Dasselbe gilt aber auch fĂŒr âdie Un-
terwĂŒrfigkeit eines immerhin zum geistigen Adel gehörenden Menschen vor
den Besitzern von Pferden, Ăckern und Traditionenâ (MoE 14), also fĂŒr den
subalternen Habitus des bĂŒrgerlichen Aufsteigers aus erster Generation, âder
sich den Rangordnungen des Daseins unterworfen hatte und sie als ihr eifri-
ger Diener verteidigte, aber in sich allerhand Auflehnungen barg, fĂŒr die er
auf dem von ihm gewĂ€hlten Lebenswege keinen Ausdruck finden konnteâ
(MoE 697). Ebenjene vom eigenen Vater verkörperte Hypokrisie hatte Ulrich,
den Angehörigen der zweiten, arrivierten Generation der âBourgeoisieâ (Tb
1, 420), die sich ihre gehobene Stellung nicht mehr selbst erarbeiten musste,
âimmer gereiztâ (MoE 14).113 Der objektivierende ErzĂ€hler hingegen nimmt
den Vater vor den AnwĂŒrfen des Sohnes vorderhand in Schutz : âEs war [âŠ]
112 Als Beispiel fĂŒr Ulrichs intellektuelle Distanz zur Welt und zu sich selbst sei folgende Passage
aus dem ersten Romanteil angefĂŒhrt : â[S]eit langem blieb ein Hauch von Abneigung ĂŒber
allem liegen, was er trieb und erlebte, ein Schatten von Ohnmacht und Einsamkeit, eine uni-
versale Abneigungâ (MoE 59 f.). Ulrichs innere Distanziertheit wird nicht allein von der aukto-
rialen ErzÀhlstimme, sondern auch von den anderen Romanfiguren konstatiert. So beobachtet
etwa Diotimas Kammerzofe Rachel wĂ€hrend eines frĂŒhen Treffens zur Vorbereitung der Paral-
lelaktion, âdaĂ er immer ein wenig im Gegensatz zu den anderen standâ (MoE 220).
113 Konsequent deshalb die Reaktion des erwachsenen Ulrich angesichts der in der kaiserlichen
Hofburg einigermaĂen ĂŒberrascht wahrgenommenen âGewalt, die mĂ€chtiger war als erâ (MoE
83) : Der Mann ohne Eigenschaften ĂŒbt sich im höfisch-aristokratischen Kontext nicht in Un-
terwerfungsgesten, sondern legt eine Mischung aus Fauxpas und âironische[m] Protestâ an den
Tag (vgl. MoE 84 f.), die seinem bĂŒrgerlich-intellektuellen Habitus entspricht.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208