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361âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
vorliegenden Bedingungen objektiv unangepaĂt, weil [âŠ] fĂŒr ĂŒberholte oder
beseitigte Bedingungen passend sindâ.115 Bourdieu stellt fest, âdaĂ die sozi-
ale Ordnung sich fortschreitend in den Köpfen und Gehirnen der Menschen
festsetztâ116, dass ihnen ihre gesellschaftliche Position gewissermaĂen zur zwei-
ten Natur wird, die sie bisweilen selbst dann aufrecht erhalten, wenn sich die ge-
sellschaftliche Position lÀngst verÀndert hat. Diese Einsicht ist dem ErzÀhler des
Mann ohne Eigenschaften durchaus vertraut. Am Beispiel von Ulrichs Vater zeigt
er einen auf sozialen Aufstieg getrimmten bĂŒrgerlichen Habitus, der sich etwa im
Entsetzen ĂŒber die unkonventionelle Wohnungswahl des Sohnes niederschlĂ€gt :
â[D]ie Aneignung eines GebĂ€udes, das man, und sei es auch nur im Diminu-
tiv, nicht umhin konnte als ein SchloĂ zu bezeichnen, verletzte sein GefĂŒhl und
Ă€ngstigte es als eine unheilverheiĂende AnmaĂung.â (MoE 14) Hier wird sein
sozialer âSinn fĂŒr Grenzenâ manifest.117 Ulrich hingegen hat das inkriminierte
âSchlöĂchenâ nicht ânur aus Ăbermutâ gemietet, sondern gerade auch deshalb,
weil er die vom Vater stillschweigend favorisierten âgewöhnlichen Wohnungen
verabscheuteâ (MoE 13).118 Wiederholt weist der ErzĂ€hler â freilich avant la
lettre â auf den sense of oneâs place119 hin, wenn von Ulrichs Vater die Rede ist :
Als er die Geschichte mit dem SchloĂ erfuhr, erschien sie ihm als die Verletzung einer
gesetzlich nicht umschriebenen, aber desto achtsamer zu respektierenden Grenze,
115 Ebd., S. 116 f.; vgl. dazu auch Bourdieu : Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 183.
116 Bourdieu : Die feinen Unterschiede, S. 734.
117 Vgl. dazu Bourdieu : Meditationen, S. 238 : âDas Wissen, das die Einverleibung der Erforder-
nisse der sozialen Welt, vor allem in Form des Sinns fĂŒr Grenzen, verschafft, ist durchaus real,
ganz wie die Unterordnung, die es impliziert und die sich manchmal in Formulierungen von
gebieterischer Resignation ausspricht : âDas ist nichts fĂŒr unsâ (oder âfĂŒr unsereinenâ), oder bana-
ler : âDas ist zu teuerâ (fĂŒr uns).â
118 In Ulrichs Wohnungswahl manifestiert sich freilich auch ein allgemeiner Wandel der symbo-
lischen Funktion des Wohnens, das sich von der Aufgabe einer unmittelbaren ReprÀsentation
der sozialen Stellung mehr und mehr befreit und durch andere, âmoderneâ Distinktionsformen
ersetzt wird, wie Musil in der âunfreundlichen Betrachtungâ TĂŒren und Tore aus dem NachlaĂ
zu Lebzeiten feststellt : âDer Mensch frĂŒherer Zeiten, SchloĂherr wie StĂ€dter, lebte in seinem
Haus ; seine Stellung im Leben zeigte sich darin an, speicherte sich dort auf. Man empfing noch
in der Biedermeierzeit bei sich ; heute macht man das bloĂ nach. Das Haus hat dem gedient,
was man scheinen wollte, und dafĂŒr ist immer Geld ĂŒbrig ; heute sind aber andere Dinge da, die
diesen Zweck erfĂŒllen : Reisen, Automobile, Sport, Winteraufenthalte, Appartments in Luxus-
hotels. Die Phantasie des Zeigens, was man ist, geht in dieser Richtung, und wenn ein reicher
Mann sich nun trotzdem ein Haus baut, so bleibt etwas KĂŒnstliches daran, etwas Privates, das
keine ErfĂŒllung einer allgemeinen Sehnsucht mehr ist.â (GW 7, 505)
119 Vgl. Bourdieu : Sozialer Raum und symbolische Macht, S. 141 ; ders.: Meditationen, S. 236â238 ;
mehr dazu oben in Kap. II.1.1.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208