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364 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
âJedes groĂe Buch atmet diesen Geist aus, der die Schicksale einzelner Perso-
nen liebt, weil sie sich mit den Formen nicht vertragen, die ihnen die Gesamt-
heit aufnötigen will.â (MoE 367)
Ulrich als Mann ohne Eigenschaften, der die âFormenâ zurĂŒckweist, die
ihm âdie Gesamtheit aufnötigen willâ, ist ein zeittypischer Intellektueller, ein
âTheoretiker im VerhĂ€ltnis zur Gesellschaft und im VerhĂ€ltnis zur Gegenwartâ,
der daran leidet, dass es zwar durchaus ihm gemĂ€Ăe âtheoretische Zeitenâ
gibt, zur erzĂ€hlten Zeit â wie ĂŒbrigens auch zur ErzĂ€hlzeit â âaber eine an-
titheoretische [bevorsteht]â bzw. bereits angebrochen ist (MoE 1905, nach
M II/2/17). Hierin liegt die zeithistorische âTragikâ des Mann ohne Eigen-
schaften begrĂŒndet, die ihn immer mehr in die Gefilde des âanderen Zustandsâ
und der âFamilie zu zweienâ (MoE 715) lenken wird, ohne dass er dabei dem
seinerzeit modischen irrationalen Mystizismus oder aber einer flachen Famili-
enidylle anheimfĂ€llt. Ulrich ist eben kein Opportunist, vielmehr ein âgeistiger
Dadaistâ im bereits definierten Sinn124, der sich âder Unfestheit des Lebensâ
stets bewusst bleibt (vgl. GW 8, 1156) und deshalb âhinter seiner Personâ war-
tet, âsofern dieses Wort den von Welt und Lebenslauf geformten Teil eines
Menschen bezeichnetâ (MoE 256).
Ein nicht nur unter gendertheoretischen Gesichtspunkten fragwĂŒrdiger
Aspekt dieses âgeistigen Dadaismusâ besteht freilich in Ulrichs forciertem
âDonjuanismusâ, in dem sich âGewalt und Grausamkeit [âŠ] wesenhaft mit
der SphĂ€re der Liebeâ verbinden125 und der ihm im Umgang mit Frauen im-
mer wieder zum Problem wird. Stéphane Gödicke spricht in diesem Kontext
von einem âausgeprĂ€gten Eroberungsdrangâ126 Ulrichs und etabliert die fĂŒr
Musils spezifischen Nietzscheanismus bezeichnende AffinitÀt von geistiger
und geschlechtlicher AktivitÀt unter dem Zeichen der Gewalt. Es sei etwa
âaufschluĂreich festzustellen, daĂ die Gewalt bei Musil [âŠ] als unzertrennlich
von der Wissenschaft dargestellt wirdâ127. Hier offenbart sich ein damals noch
âneues Bild der MĂ€nnlichkeitâ, nĂ€mlich
die Entdeckung, daĂ die Griffe und Listen, die ein erfinderischer Kopf in einem lo-
gischen KalkĂŒl anwendet, wirklich nicht sehr verschieden von den Kampfgriffen
eines hart geschulten Körpers sind, und es gibt eine allgemeine seelische Kampfkraft,
die von Schwierigkeiten und Unwahrscheinlichkeiten kalt und klug gemacht wird,
124 Vgl. Kap. I.3.1.
125 Gödicke : Donjuanismus im Mann ohne Eigenschaften, S. 38.
126 Ebd., S. 27.
127 Ebd., S. 38.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208