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366 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
PhĂ€nomenen des Eros zu vernehmen, als deren âbloĂ ins Geistige ĂŒbertra-
genesâ Prinzip es gelten kann. âErnĂŒchternd ist vor allem die Gewalt, die das
Liebeserlebnis an den Tag legt. Musil entschleiert die romantische Vorstel-
lung der Liebe als LĂŒge ; das GefĂŒhl, daĂ [sic] er uns zeigt, hat viel mehr mit
Krieg und Gewalt zu tun.â130 Konsequent setzt sein ErzĂ€hler âdie Prinzipien
der wissenschaftlichen, sprich : der nĂŒchternen Betrachtung in die Tat umâ131,
selbst und gerade wenn es um Fragen der Liebe bzw. des Eros geht. Die dabei
wirksame âVerkleinerungswutâ, die als âein selbstquĂ€lerischer Zug des Geistesâ
beschrieben wird, als âeine unaussprechliche Lust an dem Schauspiel, daĂ sich
das Gute erniedrigen und wunderbar einfach zerstören lasseâ (MoE 306), gilt
als âKennzeichen der wissenschaftlichen Haltungâ bzw. als âAttribut des wis-
senschaftlichen Geistesâ.132
Die seit Nietzsche und Freud bekannte Tatsache, dass Gewalt, Wissens-
drang und Eros âeiner gemeinsamen Wurzel entspringenâ, dass âalso in der
Wissenschaft die gleichen KrĂ€fte wie in der Liebe am Werkâ sind133, Ă€uĂert
sich romanintern in Ulrichs manifestem Sadismus gegenĂŒber Frauen, den er
erst in Gegenwart Agathes ansatzweise ĂŒberwinden wird. Wie Musils psy-
chologischer GewĂ€hrsmann Kretschmer erlĂ€utert, ist eine âgewisse Neben-
komponente von aktiver und passiv zu erduldender Grausamkeitâ nicht selten
âdem Sexualtrieb beigemischtâ.134 Angesichts von Ulrichs Leidenschaft im
wissenschaftlichen Bereich scheint etwa Kretschmers Diagnose bezeichnend,
dass âbei starker AusprĂ€gung von Grausamkeitsinstinkten im Gesamttempe-
rament diese leicht in die geschilderte Nebenkomponente des Sexualtriebs
mit eingehen und, wie bei einzelnen Perversionen, auf dem Weg der Verschie-
bung, der speziellen Erlebnisfixierung u. dgl. gelegentlich nicht nur als Be-
gleiterscheinung, sondern auch als Ersatz fĂŒr den Koitus eintreten könnenâ135.
AggressivitĂ€t im âWillen zu wissenâ und in eroticis wĂ€ren demnach nur zwei
Seiten einer Medaille. Ulrich selbst streicht gegenĂŒber Walter den so leiden-
schaftlichen wie kompromisslosen Charakter moderner Wissenschaft heraus :
130 Gödicke : Donjuanismus im Mann ohne Eigenschaften, S. 38.
131 Ebd.
132 Ebd., S. 38 f.
133 Ebd., S. 39.
134 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 124. â[I]n krassen FĂ€llen kann die Freude an MiĂ-
handlungen, SchlÀgen, sklavischer Erniedrigung direkt sexuelle Lust erzeugend an Stelle des
Geschlechtsverkehrs treten, was man im aktiven Fall, der Lust am MiĂhandeln, als Sadismus,
im passiven Fall, der Lust am MiĂhandeltwerden, als Masochismus bezeichnet.â
135 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208