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367âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Das Wissen ist ein Verhalten, eine Leidenschaft. Im Grunde ein unerlaubtes Verhal-
ten ; denn wie die Trunksucht, die Geschlechtssucht und die Gewaltsucht, so bildet
auch der Zwang, wissen zu mĂŒssen, einen Charakter aus, der nicht im Gleichgewicht
ist. Es ist gar nicht richtig, daĂ der Forscher der Wahrheit nachstellt, sie stellt ihm
nach. Er erleidet sie. Das Wahre ist wahr, und die Tatsache ist wirklich, ohne sich
um ihn zu kĂŒmmern : er hat bloĂ die Leidenschaft dafĂŒr, die Trunksucht am Tat-
sÀchlichen, die seinen Charakter zeichnet, und schert sich den Teufel darum, ob ein
Ganzes, Menschliches, Vollkommenes oder was ĂŒberhaupt aus seinen Feststellungen
wird. Das ist ein widerspruchsvolles, ein leidendes und dabei ungeheuer tatkrÀftiges
Wesen ! (MoE 215)
Gemeinsam ist der wissenschaftlichen und der erotischen AktivitÀt bei Musil
mithin der Umstand, âdaĂ sie als âTriebâ und âSuchtâ vorgestellt werden, die zu
unerlaubten Ăberschreitungen fĂŒhrenâ136. Im Fall Ulrichs erscheint die beschrie-
bene Leidenschaftlichkeit freilich mit einer charakteristischen Teilnahmslosig-
keit gepaart, was als habituelle Begleiterscheinung seiner âEigenschaftslosigkeitâ,
seiner antisubjektivistischen Grundhaltung gedeutet werden kann :
Ulrich war ein leidenschaftlicher Mensch, aber man darf dabei unter Leidenschaft
nicht das verstehen, was man im einzelnen die Leidenschaften nennt. Es muĂte wohl
etwas gegeben haben, das ihn immer wieder in diese hineingetrieben hatte, und das
war vielleicht Leidenschaft, aber im Zustand der Erregung und der erregten Hand-
lungen selbst war sein Verhalten zugleich leidenschaftlich und teilnahmlos [sic]. Er
hatte so ziemlich alles mitgemacht, was es gibt, und fĂŒhlte, daĂ er sich noch jetzt
jederzeit in etwas hineinstĂŒrzen könnte, das ihm gar nichts zu bedeuten brauchte,
wenn es bloĂ seinen Aktionstrieb reizte. (MoE 148)
TatsÀchlich ist das bei aller unterschwelligen AggressivitÀt zumeist passive
Verhalten137 Ulrichs selbst in erotischen Belangen â Ă€hnlich wie das von Flau-
berts FrĂ©dĂ©ric Moreau â durch eine âinaktive Leidenschaftâ138 ausgezeichnet,
durch einen âaktive[n] Passivismusâ, der dem âWarten eines Gefangenen auf
die Gelegenheit des Ausbruchsâ gleicht (MoE 356 ; vgl. MoE 368 f.). WĂ€hrend
aber FrĂ©dĂ©ric vor dem Problem steht, âsich zwischen klaren Alternativen, die
alle ihren Reiz haben, nicht recht entscheiden zu können bzw. seine Entschei-
dungen immer wieder rĂŒckgĂ€ngig zu machen, wenn sich die materiellen Ver-
136 Gödicke : Donjuanismus im Mann ohne Eigenschaften, S. 39.
137 Vgl. Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 237 f.
138 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 56.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208