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371âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
stande brachte, war bloĂ, sie restlos, so wie es das soziale WohlgefĂŒhl er-
fordert, zu liebenâ (MoE 59)149 â denn das wĂ€re das Ende von Kritik und
AufklÀrung. Sein an Nietzsche geschulter ideologiekritischer Blick ist darauf
konditioniert, dass es keinen auch noch so âfrommen Zweckâ gibt, âder sich
nicht mit ein klein wenig Korruption und Berechnung der niederen mensch-
lichen Eigenschaften ausstatten mĂŒĂte, um in dieser Welt fĂŒr ernst und ernst
gemeint zu geltenâ (MoE 306) â und genau das Wissen darum hindert ihn,
umstandslos in die gesellschaftlich gepflegte und geforderte Ernsthaftigkeit
einzustimmen.
An dieser Stelle muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Ulrichs
programmatischem Unernst im VerhĂ€ltnis zur sozial verbĂŒrgten Wirklichkeit
auf einer anderen Ebene ein ebenso programmatischer Ernst gegenĂŒbersteht.
So pflegt er zum einen âernste Aussprache[n]â mit Wissenschaftlern, etwa mit
einem âHerrn [âŠ] aus der Physikalischen Gesellschaftâ (MoE 115), oder be-
trachtet die âUtopieâ des âexakte[n] Mensch[en]â, âder alles [âŠ] grĂŒndlich
und vorurteilslos nimmtâ, nicht als âeinen unsittlichen Versuch, begangen an
ernsthaft beschĂ€ftigten Personenâ, sondern nimmt sie âselbst grĂŒndlichâ ernst
(MoE 247). WĂ€hrend âdas Wissenâ und die RationalitĂ€t um ihn herum an-
fangen, âunzeitgemÀà zu werdenâ, und âder unscharfe Typus Mensch [âŠ]
sich durchzusetzenâ beginnt, wie der ErzĂ€hler mit Blick auf die ErzĂ€hlzeit
kritisch bemerkt, weigert sich Ulrich, âdas ernst zu nehmenâ ; stattdessen bil-
det er âseine geistigen Neigungen auf eigene Art weiterâ (MoE 249), bezieht
seine Ernsthaftigkeit höchst unzeitgemÀà auf das gesteigerte BemĂŒhen um
wirkliche Erkenntnis, wird âernsthaftâ, wenn er etwa ânach einem Ausdruck
sucht[ ]â (MoE 738). Diese eigentĂŒmliche Verkehrung von Ernst und Unernst
strukturiert seinen Habitus generell. Er stellt etwa fest : âDie Menschen, die
in Diotimas Salon sprachen, hatten in nichts ganz unrecht, weil ihre Begriffe
so unscharf waren wie Gestalten in einer WaschkĂŒche.â (MoE 458) Ulrich
erlaubt sich deshalb âeinmal den Scherzâ (!),
von ihnen genaue Angaben ĂŒber das zu verlangen, was sie meinten ; sie sahen ihn
darauf miĂbilligend an, nannten sein Begehren mechanische Lebensauffassung und
Skepsis und stellten die Behauptung auf, daĂ das Komplizierteste nur auf das ein-
149 Die abschlieĂende Formulierung steht scheinbar in einem Widerspruch zur oben zitierten Aus-
sage, dass selbst âder brave, praktische Wirklichkeitsmensch die Wirklichkeit nirgends restlos
liebt und ernst nimmtâ (MoE 138). Die Unvereinbarkeit lĂ€sst sich aber auflösen, wenn man
zwischen dem âWirklichkeitsmenschenâ und den Forderungen des âsozialen WohlgefĂŒhlsâ un-
terscheidet, denen selbst bei einer mehr oder weniger oberflÀchlichen Anpassung wohl nie-
mand vollkommen entspricht.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208