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373âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
seines Lebens und verachtete sich fĂŒr seine Unterlassungen. [âŠ] So blieb ihm eigent-
lich nur in der groĂen ErschĂŒtterung jener Rest von UnerschĂŒtterlichkeit ĂŒbrig, den
alle Helden und Verbrecher besitzen, es ist nicht Mut, es ist nicht Wille, es ist keine
Zuversicht, sondern einfach ein zÀhes Festhalten an sich, das sich so schwer austrei-
ben lĂ€Ăt wie das Leben aus einer Katze, selbst wenn sie von den Hunden schon ganz
zerfleischt ist. (MoE 256 f.)
Ulrichs verbliebener âRest von UnerschĂŒtterlichkeitâ angesichts der stetig
wachsenden âVerzweiflungâ scheint dieser Charakterisierung zufolge nicht
dazu angetan, ihn seinem eher diffus erahnten als klar erkannten Lebensziel
nÀherzubringen. WÀhrend einer seiner vielen unbefriedigenden Zusammen-
kĂŒnfte mit Bonadea wird sich der vom ZwiegesprĂ€ch gedanklich abschwei-
fende Mann ohne Eigenschaften der enormen emotionalen Kosten seiner âei-
genschaftslosenâ Existenz sowie intellektuellen Autonomie bewusst :
âWas ist von mir ĂŒbrig geblieben ?â dachte Ulrich bitter. âVielleicht ein Mensch, der tap-
fer und unverkÀuflich ist und sich einbildet, daà er um der Freiheit des Inneren willen
nur wenige Ă€uĂere Gesetze achtet. Aber diese Freiheit des Inneren besteht darin, daĂ
man sich alles denken kann, daĂ man in jeder menschlichen Lage weiĂ, warum man
sich nicht an sie zu binden braucht, und niemals weiĂ, wovon man sich binden lassen
möchte !â In diesem wenig glĂŒcklichen Augenblick, wo sich die sonderbare kleine Ge-
fĂŒhlswelle, die ihn fĂŒr eine Sekunde gefaĂt hatte, wieder auflöste, wĂ€re er bereit ge-
wesen, zuzugeben, daĂ er nichts besitze als eine FĂ€higkeit, an jeder Sache zwei Seiten
zu entdecken, jene moralische Ambivalenz, die fast alle seine Zeitgenossen auszeich-
nete und die Anlage seiner Generation bildete oder auch deren Schicksal. Seine Be-
ziehungen zur Welt waren blaĂ, schattenhaft und verneinend geworden. (MoE 265)
Gegen Ende des Ersten Buchs, nach einer langen, wie immer ergebnislosen
Sitzung der Parallelaktion, kommt es zu einer Ă€hnlichen âernsthaftenâ Erfah-
rung, deren Wiederholungen sich solcherart zu einem anhaltenden Syndrom
verdichten :
Obgleich Ulrich mit allen diesen Personen immer nur gespielt zu haben glaubte,
fĂŒhlte er sich mit einemmal sehr verlassen zwischen ihnen. Er erinnerte sich, vor
einigen Wochen oder Monaten etwas Ăhnliches gefĂŒhlt zu haben wie in diesem Au-
genblick : Widerstreben eines kleinen entlassenen Atemzuges der Schöpfung gegen
die versteinte Mondlandschaft, in die er hineingerÀt ; und es wollte ihm scheinen,
daĂ alle entscheidenden Augenblicke seines Lebens von einem solchen Eindruck des
Staunens und der Einsamkeit begleitet worden waren. (MoE 596)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208