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379âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Die zumindest in sozialer Hinsicht starken VĂ€ter sind also ein Problem gleich
mehrerer mÀnnlicher Figuren in Musils 1913 einsetzendem Roman. Walters
âbequeme Beamtenstellungâ unterscheidet ihn freilich gleich wieder von Ul-
rich, dessen Installation als âehrenamtlicher SekretĂ€râ der Parallelaktion (MoE
162) ihm zwar reichlich soziales, nicht aber ökonomisches Kapital verschafft.
Walter hingegen kann sich zwar von der unmittelbaren vÀterlichen AbhÀngig-
keit befreien, bleibt seinem Vater aufgrund der Protektion jedoch mittelbar im
doppelten Wortsinn verpflichtet und erweist sich zudem durch das Charakteris-
tikum der Bequemlichkeit gezeichnet, das seiner Beamtenstellung anhaftet. In
Ulrichs Worten gegenĂŒber Clarisse : âEs gibt kein zweites solches Beispiel der
Unentrinnbarkeit wie das, das ein begabter junger Mensch bietet, wenn er sich
zu einem gewöhnlichen alten Menschen einengt ; ohne Schlag des Schicksals,
nur durch die Einschrumpfung, die ihm vorher bestimmt war !â (MoE 50)
Walters spezifische Form von âEigenschaftslosigkeitâ verbindet und trennt
ihn zugleich von seinem âJugendfreundâ. Zumindest auf den ersten Blick weist
sein Leben eine Àhnliche berufliche Unstetigkeit auf wie dasjenige Ulrichs :
[E]igentlich war Walter Maler ; er hatte gleichzeitig mit dem Kunstgeschichtsstudium
an der UniversitÀt in einer Malklasse der Staatsakademie gearbeitet und spÀter eine
Zeitlang in einem Atelier gewohnt. Auch als er mit Clarisse in dieses Haus unter dem
freien Himmel gezogen war, er hatte sie kurz vorher geheiratet, war er Maler gewe-
sen ; aber jetzt, so schien es, war er wieder Musiker und im Lauf seiner zehnjÀhrigen
Liebeszeit war er bald das eine, bald das andere gewesen, dazu noch Dichter, hatte
eine literarische Zeitschrift herausgegeben, war, um heiraten zu können, Angestellter
eines BĂŒhnenvertriebs geworden, hatte nach wenigen Wochen auf seine Absicht ver-
zichtet, war, um heiraten zu können, nach einiger Zeit Theaterkapellmeister gewor-
den, hatte nach einem halben Jahr auch diese Unmöglichkeit durchschaut, war Zei-
chenlehrer, Musikkritiker, Einsiedler und manches andere gewesen [âŠ]. (MoE 50 f.)
Bezeichnend ist an dieser Passage zunÀchst die Verwendung des problemati-
schen Modalwortes âeigentlichâ, denn es bezeichnet hier just das, was Walter
trotz einschlÀgiger akademischer Ausbildung gerade nicht geworden ist : ein
Kunstmaler. Um unerschĂŒtterliche Eigenschaften ist es also auch bei Walter
schlecht bestellt, dessen hÀufiger Wechsel der TÀtigkeiten vielmehr einer pro-
blematischen inneren Leere, einem âNichtsâ (MoE 52) entspricht und ĂŒber-
dies auf das bei ihm manifeste Syndrom des Dilettantismus verweist.
In diesem Zusammenhang ist hinsichtlich des habituellen Unterschieds
zwischen den beiden Jugendfreunden generell zu bemerken, dass Walter â
anders als der wissenschaftlich interessierte Ulrich â sich zeitlebens als KĂŒnst-
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208