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380 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
ler versteht bzw. zumindest mit allen seinen TĂ€tigkeiten einen kĂŒnstlerischen
Anspruch verfolgt. Sein schöpferischer Impetus wird allerdings durch das
Ausbleiben von Resultaten konterkariert ; der ErzĂ€hler weist ausdrĂŒcklich da-
rauf hin, dass Walters âVater und sein zukĂŒnftiger Schwiegervater trotz aller
Weitherzigkeitâ seinen unsteten Lebenswandel ânicht mehr ertrugenâ, wobei
sie sich offenbar weniger am diskontinuierlichen beruflichen âZickzacklaufâ
als vielmehr an der kontinuierlichen Ergebnislosigkeit gestoĂen haben : âSol-
che Àlteren Leute pflegten zu behaupten, daà es ihm einfach an Willen fehle ;
aber da hÀtte man ebensogut behaupten können, daà er sein Leben lang nur
ein vielseitiger Dilettant gewesen seiâ (MoE 51). Mit dem â wenngleich ânur
hypothetisch-konjunktivisch in ErwĂ€gung gezogen[en]â158 â Begriff des âDilet-
tantenâ wird hier eine kĂŒnstlerische und kunstkritische Kategorie in Anschlag
gebracht, die seit der klassischen Weimarer Ăsthetik eine wichtige Rolle in der
deutschsprachigen Kunsttheorie gespielt hat und um 1900 im Gefolge des von
Paul Bourget, Nietzsche und anderen inspirierten DĂ©cadencediskurses159 eine
bemerkenswerte Renaissance erfuhr.160
Walter, dessen âBegabungâ in erster Linie darin besteht, âfĂŒr eine groĂe Be-
gabung zu geltenâ (MoE 51), wie der ErzĂ€hler nicht ohne SĂŒffisanz bemerkt,
unterscheidet sich durch eine charakteristische âMerkwĂŒrdigkeitâ von Ulrich
â nĂ€mlich gerade dadurch,
daĂ sich immer auch Fachleute in der Musik, der Malerei oder dem Schrifttum gefun-
den hatten, die ĂŒber Walters Zukunft begeisterte Urteile abgaben. In Ulrichs Leben,
zum Gegenbeispiel, obgleich er einiges fertiggebracht hatte, dessen Wert sich nicht
bestreiten lieĂ, hatte es sich niemals ereignet, daĂ ein Mensch zu ihm gekommen
wÀre und gesagt hÀtte : Sie sind der Mann, den ich immer gesucht habe und auf den
meine Freunde warten ! In Walters Leben war das alle Vierteljahr vorgekommen. Und
wenn das auch nicht gerade die maĂgeblichsten Beurteiler gewesen sind, so waren
alle doch Leute, die ĂŒber irgendeinen EinfluĂ, einen aussichtsreichen Vorschlag, be-
gonnene Unternehmen, Stellungen, Freundschaften und Förderung verfĂŒgten, die sie
dem von ihnen entdeckten Walter zur VerfĂŒgung stellten, dessen Leben gerade da-
durch einen so reichen Zickzacklauf nehmen konnte. (MoE 51)
158 So Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 12, Anm. 174.
159 Vgl. dazu erschöpfend ebd., S. 107â200.
160 Vgl. Sïżœrensen : Der âDilettantismusâ des Fin de siĂšcle ; Schulz-Buschhaus : Der Tod des Di-
lettanten ; BogosavljeviÄ : Der Amiel-Aufsatz ; Stoupy : Hofmannsthals BerĂŒhrung mit dem
Dilettantismus-PhĂ€nomen ; Streim : Das âLebenâ in der Kunst, bes. S. 57â75, 86â94 u. 168â171 ;
Wieler : Dilettantismus ; Theodorsen : Zur Rolle des Dilettantismus ; dies.: Leopold Andrian,
bes. S. 13â82, 157â168 u. 263â294.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208