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387âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
ben.166 Im gegenwÀrtigen Zusammenhang interessiert allerdings weniger
diese bereits vielfach analysierte Zitatmontage, sondern deren ideologiekriti-
sche Funktion hinsichtlich der erzÀhlerischen Habituskonstruktion.
Eifersucht quĂ€lte ihn. Gemeiner Rausch schwer sinnlicher Musik lockte ihn zurĂŒck.
Das Klavier in seinem RĂŒcken stand offen wie ein Bett, das ein SchlĂ€fer zerwĂŒhlt hat,
der nicht aufwachen mag, um der Wirklichkeit nicht ins Gesicht sehen zu mĂŒssen.
Die Eifersucht eines GelĂ€hmten, der die Gesunden schreiten fĂŒhlt, peinigte ihn, und
er brachte es nicht ĂŒber sich, sich ihnen anzuschlieĂen, denn sein Schmerz bot keine
Möglichkeit, sich gegen sie zu verteidigen. (MoE 60)
In Walters substanzialistischen Anwandlungen, in seinem Bestreben, âder
Wirklichkeit nicht ins Gesicht sehen zu mĂŒssenâ, und in seinem âweich[en],
ausgelaufen[en] und verloren[en]â Zustand nach dem Klavierspiel (MoE 48)
manifestiert sich eine fortwÀhrende Flucht vor der RealitÀt, wohingegen Ul-
richs wirklichkeitskritische Haltung und sein Möglichkeitssinn ihn als uto-
pisch gesonnenen Realisten ausweisen. Diese Differenz zwischen den beiden
Jugendfreunden schlÀgt sich auch im scheinbar nur graduellen Unterschied
zwischen Walters evasorischem Ansinnen nieder, âsich ganz zurĂŒck[zu]ziehnâ
(MoE 218), und Ulrichs Beschluss, âsich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu
nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner FĂ€higkeiten zu suchenâ
(MoE 47).
Zu Ulrichs programmatischer Skepsis gegenĂŒber der gesellschaftlichen
Wirklichkeit steht Walters unbewusste habituelle Disposition in einem gleich-
sam chiastischen VerhĂ€ltnis : So manifestiert sich sein âsoziales Unbewusstesâ
in einer eigenwilligen TierprÀferenz :
[S]chon seit seiner Kindheit stand es fest, daĂ sein Tier Fische seien. Fische hatten
ihn immer heftig angezogen, vermischt mit Grauen, und zu Beginn eines Ferienauf-
enthalts hielt er es stets wie toll mit ihnen ; er konnte dann stundenlang am Wasser
stehn, sie aus ihrem Element herausangeln und ihre Leichen neben sich ins Gras
legen, bis das plötzlich mit einem Widerwillen abschloĂ, der an Entsetzen streifte.
Und Fische in der KĂŒche gehörten zu seinen frĂŒhesten Leidenschaften. Die Gerippe
der Ausgeweideten wurden in einen Weidling getan, ein nachenförmiges KĂŒchenge-
rĂ€t [âŠ] ; zu diesem GefÀà zog es geheimnisvoll den Knaben, der stundenlang unter
kindlichen VorwĂ€nden dahin zurĂŒckkehrte und, wenn er rundweg befragt wurde, die
Sprache verlor. Heute wĂŒrde er vielleicht zur Antwort geben können, daĂ der Zauber
166 Ebd., S. 237 ; vgl. schon MĂŒller : Ideologiekritik und Metasprache, S. 26â32.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208