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388 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
der Fische darin bestehe, daà sie nicht zwei Elementen angehören, sondern ganz in
einem ruhn. Er sah sie wieder vor sich, wie er sie oft im tiefen Wasserspiegel gesehen,
und sie bewegten sich nicht so wie er selbst ĂŒber einem Boden hin, an dessen Grenze
gegen ein leeres Zweites (weder da, noch dort daheim ! dachte Walter, den Gedanken
kreuz und quer spinnend ; einer Erde angehörig, mit der man gerade nur die kleine
FlĂ€che der FĂŒĂe gemeinsam hat, und mit dem ganzen Körper in eine Luft ragend, in
der man fallen wĂŒrde und die man von ihrem Platz drĂ€ngt !), sondern der Boden der
Fische, ihre Luft, ihr Trank, ihre Speise, ihr Schreck vor Feinden, der schattenhafte
Zug ihrer Liebe und ihr Grab schlossen sie ein ; sie bewegten sich in dem, wovon sie
bewegt wurden, wie es der Mensch nur im Traum erlebt oder vielleicht in dem sehn-
sĂŒchtigen Verlangen, die schĂŒtzende ZĂ€rtlichkeit des Mutterleibs wiederzufinden,
woran zu glauben, damals gerade Mode zu werden anfing. (MoE 611 f.)
Gunther Martens erklĂ€rt âWalters â ihm selbst nur halb verstĂ€ndliche â Fas-
zination fĂŒr Fische mit der Tatsacheâ, âdass Fische als die âWasserbourgeoisâ
unter den Tieren ganz âin ihrem Element schwebenâ (MoE 522), das sie fĂŒr
so natĂŒrlich halten, dass sie es sich gar nicht vorstellen könnenâ.167 Es handelt
sich bei den zitierten Worten zwar keineswegs um einen auktorialen Kom-
mentar, wie Martens â wohl um seine zentrale These von der romankonsti-
tutiven AuktorialitĂ€t zu stĂŒtzen â suggeriert, sondern ânurâ um eine indirekte
Charakterisierung, die sich durch den Gegensatz zwischen der Fisch-Begeis-
terung Walters und der (von Walter indirekt wiedergegebenen) abfÀlligen Fi-
gurenrede Clarisses einstellt.168 Die rhetorische Kontrastwirkung der unter-
schiedlichen Perspektiven Walters und Clarisses entspricht indes durchaus
der narrativen Suggestion Musils, die auf paradoxe Weise darauf hinauslÀuft,
dass der wirklichkeitsflĂŒchtige Walter letztlich dennoch âdie Wirklichkeitsge-
sinnung par excellenceâ verkörpere.169 Seine Haltung zur sozialen RealitĂ€t ist
zudem nicht nur in sich gebrochen, sondern ĂŒberdies von massiver Selbst-
ĂŒberschĂ€tzung geprĂ€gt, die sich ihm selber völlig ungebrochen Ă€uĂert :
167 Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 129.
168 Vgl. Walters Erinnerung : âAber Clarisse hatte einmal Fische einfach Wasserbourgeois ge-
nannt ? ! Er zuckte beleidigt zusammen.â (MoE 612) Wenn Martens Clarisses Apostrophierung
der Fische als âWasserbourgeoisâ durch das erlĂ€uternde Zitat fortsetzt, dass sie âin ihrem Ele-
ment schweben wie ein Tanz in dem seinenâ (MoE 523), dann bezeichnet er zwar genau das
durch Musils erzÀhlerische Konstruktion freilich nicht auktorial formulierte, sondern nur nahe-
gelegte Argument, macht seine Argumentation aber philologisch angreifbar, weil die zuletzt
zitierte Stelle aus einem ganz anderen Kontext der ErzÀhlung stammt.
169 Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 129.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208