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399âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
mulierung âjemanden mit einem Stein werfenâ, die ĂŒbrigens auch in anderen
zeitgenössischen Romanen Figuren aus marginalisierten sozialen Kontexten
in den Mund gelegt wird197, recht eindeutig auf seine Urheberschaft verweist
â genauso wie das seltsame Zusammenblenden einzelner gehender Frauen zu
âProzessionenâ, die ihn richtiggehend verfolgen (vgl. MoE 74). Die subjektive,
partikulÀre Perspektive des abnormen Frauenmörders gewinnt in der Folge
gÀnzlich Oberhand :
Moosbrugger behauptete, daà er kein Lustmörder sein könne, weil ihn immer nur
GefĂŒhle der Abneigung gegen diese Frauenspersonen beseelt hĂ€tten, und das er-
scheint nicht unwahrscheinlich, denn man will doch auch eine Katze verstehn, die
vor einem Bauer sitzt, in dem ein dicker blonder Kanarienvogel auf und nieder hĂŒpft ;
oder eine Maus schlĂ€gt, auslĂ€Ăt, wieder schlĂ€gt, nur um sie noch einmal fliehen zu
sehn ; und was ist ein Hund, der einem rollenden Rad nachlÀuft, nur noch im Spiel
beiĂend, er, der Freund des Menschen ? : da ist im Verhalten zum Lebendigen, Be-
wegten, stumm vor sich hin Rollenden oder Huschenden eine geheime Abneigung
gegen das sich seiner selbst freuende Mitgeschöpf berĂŒhrt. Und was sollte man
schlieĂlich machen, wenn sie schrie ? Man könnte nur zur Besinnung kommen oder,
wenn man das eben nicht kann, ihr Gesicht zu Boden drĂŒcken und Erde ihr in den
Mund stopfen. (MoE 71)
Die in diesem und in den vorgegangenen Zitaten manifeste pathologische
Denkweise Moosbruggers, die ganz offensichtlich auch auf eine allgemeine
anthropologische Konstitution verweist198, verdient eine eingehende Erörte-
rung.199 Im gegenwÀrtigen Kontext geht es jedoch um die Rekapitulation und
Kontextualisierung der erwÀhnten sozialen Indizes sowie um deren erzÀhle-
rische Inszenierung. Im VorĂŒbergehen wurde bereits Moosbruggers Beruf ge-
nannt : Er ist Zimmermann, genauer : âZimmermannsgeselleâ (MoE 71), also
in untergeordneter Stellung im Bauhandwerk tÀtig, und verdingt sich dane-
ben als Gelegenheitsarbeiter in der Landwirtschaft. Moosbrugger arbeitet in
Bereichen, die in der sozialen Hierarchie Kakaniens nicht hoch angesiedelt
197 Vgl. etwa eine Analepse der autodiegetischen (s. ebd., S. 175 f.) weiblichen Protagonistin in
Keun : Das kunstseidene MĂ€dchen, S. 89 : âUnd die MĂ€dchen von der höheren Schule, was uns
gegenĂŒber lag, sagten ; nu guck mal die mit dem komischen Kleid ! und machten ein Hohnla-
chen. [âŠ] Und ich sie mit Steinen geworfen und habe mir einen Schwur gemacht â nĂ€mlich,
daĂ ich nicht eine sein will, die man auslacht, sondern die selber auslacht.â
198 Bereits im 8. Kapitel (und noch öfter) thematisiert Musils ErzĂ€hler âdie Abneigung jedes Men-
schen gegen die Bestrebungen jedes andern Menschenâ (MoE 34 ; vgl. auch MoE 513).
199 Vgl. Wolf : Warum Moosbrugger nicht erzĂ€hlt, S. 336â341.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208