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405âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
mit, daĂ er diese Eigenschaft Halluzinieren vor anderen voraus habe, die es nicht
können ; denn er sah auch vieles, was andere nicht sehen, schöne Landschaften und
höllische Tiere, aber er fand die Wichtigkeit, die man dem beilegte, sehr ĂŒbertrieben,
und wenn ihm der Aufenthalt in den Irrenanstalten zu unangenehm wurde, so be-
hauptete er ohne weiteres, daĂ er nur schwindle. (MoE 239)
Die individuelle âEigenschaftâ Moosbruggers besteht seiner eigenen Selbst-
wahrnehmung zufolge darin, âdaĂ es gar nichts Wichtiges bedeutet, ob etwas
drauĂen ist oder innenâ : âEs war manchmal sehr undeutlich ; die Gesichte
kamen von auĂen, aber ein Schimmer von Beobachtung sagte ihm zugleich,
daĂ sie trotzdem von ihm selbst kĂ€men.â (MoE 239) In Moosbruggers eigenen
Worten : âEr dachte besser als andere, denn er dachte auĂen und innen. Es
wurde gegen seinen Willen in ihm gedacht. Er sagte, Gedanken wĂŒrden ihm
gemacht.â (MoE 240) Wenn das denkende Subjekt seine eigenen Gedanken
aber nicht mehr kontrollieren kann, wie Musil in Anlehnung an ein von Bleu-
ler erwÀhntes Symptom der Schizophrenie suggeriert218, oder wenn die Diffe-
renz zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommener Objektwelt
âwie helles Wasser zu beiden Seiten einer durchsichtigen Glaswandâ (MoE
239) opak wird, dann erscheint jede affirmative Vorstellung von essenzieller
âEigenschaftlichkeitâ grĂŒndlich subvertiert.
Die erzÀhlerisch unter anderem auch durch ihre komplexe Zeitstruktur219
ausgezeichnete Moosbrugger-Episode weist insgesamt eine besondere Affi-
nitÀt zur Metanarration auf220, was im Rahmen einer literarischen Sozioana-
lyse keineswegs unterschlagen werden sollte. Offenkundig wird dies ebenfalls
218 Bleuler : Lehrbuch der Psychiatrie, S. 288, spricht im Kapitel ĂŒber die Schizophrenie vom âGe-
dankendrĂ€ngen, wobei der Patient das GefĂŒhl hat, denken zu mĂŒssen, wo âesâ gegen seinen
Willen in ihm denkt, wo ihm bestĂ€ndig Gedanken âgemachtâ werden, alles meist mit einer
unangenehmen Empfindung von Anstrengungâ.
219 Der gesamte Aufbau des Kapitels 18 des Ersten Buchs weist eine HĂ€ufung von Anachronien
auf : Hinsichtlich der zeitlichen Ordnung ist zu konstatieren, dass das Kapitel mit der Gerichts-
verhandlung und den daran anschlieĂenden Diskussionen einsetzt ; darauf folgt eine analepti-
sche Schilderung der Tat, danach noch eine weitere Analepse zu Moosbruggers Werdegang,
worauf der Fokus wieder zur ersten Analepse mit einer Schilderung der Tat aus der Innensicht
des TĂ€ters zurĂŒckgelenkt wird. Hinsichtlich der Dauer gibt der ErzĂ€hler zunĂ€chst eine Zu-
sammenfassung der Thematik des Kapitels, hÀlt dann bis zum Ende des vierten Absatzes eine
ErzĂ€hlpause ein, um daraufhin im fĂŒnften Absatz mit der eigentlichen ErzĂ€hlung in Form einer
raffenden Zusammenfassung zu beginnen. Hinsichtlich der Frequenz ist die iterative ErzÀhlung
von Moosbruggers Verhalten vor Gericht bemerkenswert, die durch die Konjunktion â[immer]
wennâ (MoE 68, 70, 72, 74 u. 76) angezeigt wird.
220 Mehr dazu in Wolf : Warum Moosbrugger nicht erzĂ€hlt, S. 341â362.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208