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406 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
gleich im ersten einschlÀgigen Kapitel, wo ein Einschub zur gestörten Authen-
tizitÀt der ErzÀhlung die metanarrative Reflexion eröffnet :
Ulrich war, als sein Blick auf dieses Gesicht mit den Zeichen der Gotteskindschaft
ĂŒber Handschellen traf, rasch umgekehrt, hatte einem Wachsoldaten des nahegele-
genen Landesgerichts einige Zigaretten geschenkt und nach dem Konvoi gefragt, der
erst vor kurzem das Tor verlassen haben muĂte ; so erfuhr er â â : doch so muĂ derar-
tiges sich wohl frĂŒher abgespielt haben, da man es oft in dieser Weise berichtet findet,
und Ulrich glaubte beinahe selbst daran, aber die zeitgenössische Wahrheit war, daĂ
er alles bloĂ in der Zeitung gelesen hatte. (MoE 69)
Es handelt sich hier um einen fĂŒr Musils Roman charakteristischen metafik-
tionalen Einschub. Nach Patricia Waugh ist âMetafictionâ ein Sammelbegriff
fĂŒr jene âfiktionale[n] ErzĂ€hltexte, die selbstreflexiv und systematisch die Auf-
merksamkeit auf ihren Status als Artefakte lenken, und damit die Beziehung
zwischen Fiktion und Wirklichkeit problematisierenâ.221 Der Mann ohne Ei-
genschaften zĂ€hlt zweifelsohne zu dieser Kategorie von Texten, zumal er âdie
zunehmende Schwierigkeit, innerhalb der Lebenswelt zwischen Wirklichkeit
und Fiktion zu unterscheidenâ222, auf programmatische Weise Ă€sthetisch funk-
tionalisiert : So transformiert seine ErzÀhlstimme nach einem szenisch wie-
dergegebenen Wortwechsel zwischen Moosbrugger, dem Richter und dem
Staatsanwalt einen zunÀchst noch unmissverstÀndlich formulierten proposi-
tionalen Aussagesatz durch eine charakteristische ErgÀnzung zu einer offe-
nen Frage : âDas war aus der Verhandlung, der Ulrich beigewohnt hatte, oder
bloĂ aus den Berichten, die er gelesen hatte ?â (MoE 119) Schon im ersten
Moosbrugger-Kapitel 18 hatte es dementsprechend einleitend und einschrÀn-
kend geheiĂen : âWas Ulrich auf diesem Wege [der ZeitungslektĂŒre, N. C. W.]
von der Geschichte Moosbruggers erfuhr, war ungefĂ€hr das Folgendeâ (MoE
69).223 In der ausdifferenzierten modernen Welt hat die massenmediale Ver-
mittlung das unmittelbare individuelle Erlebnis lÀngst ersetzt, wie auch Walter
Benjamin â viel elegischer als Musil â bemerkt :
221 Waugh : Metafiction, S. 2 ; zit. nach Vogt : Grundlagen narrativer Texte, S. 296, der auch die
Ăbersetzung ins Deutsche verantwortet.
222 So Vogt ebd.
223 In diesem Zusammenhang mag es wie eine untergrĂŒndige Ironie erscheinen, dass Musil bei der
Gestaltung seiner Moosbrugger-Figur selbst intensiv aus Zeitungsberichten geschöpft hat ; vgl.
Corino : ZerstĂŒckt und durchdunkelt, S. 108 ; Corino : Musil [2003], S. 882.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208