Seite - 407 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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407âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Die Zeitungen erscheinen in groĂen Auflagen. Kein Leser verfĂŒgt so leicht ĂŒber et-
was, was sich der andere âvon ihm erzĂ€hlenâ lieĂe. â Historisch besteht eine Kon-
kurrenz zwischen den verschiedenen Formen der Mitteilung. In der Ablösung der
Ă€lteren Relation durch die Information, der Information durch die Sensation spiegelt
sich die zunehmende VerkĂŒmmerung der Erfahrung wider.224
Die Einsicht in die wachsende mediale Vermitteltheit oder gar Konstruiert-
heit der RealitÀt muss freilich nicht bedeuten, dass es hinter der Vermittlung
ĂŒberhaupt keine Wirklichkeit mehr gibt, wie die âpostmodernâ inspirierte Li-
teraturwissenschaft den bereits von Musil diagnostizierten Sachverhalt in ei-
ner Radikalisierung Benjamins ĂŒberpointiert : âWas wir â insbesondere in der
Vermittlung durch die modernen Massenmedien â als âWirklichkeitâ erleben,
ist bereits medial produzierte Pseudowirklichkeit â also nicht mehr kenntliche
Fiktion, sondern undurchschaubare, tendenziell allumfassende Simulation.â225
Den uneingestandenen Hintergrund solcher Aussagen bildet eine schemati-
sche geschichtsphilosophische Opposition zwischen verlorener âeigentlicherâ
und aktueller âPseudowirklichkeitâ.226 Musils Argumentation ist hier nĂŒchter-
ner und zugleich differenzierter, wie die (weiter oben schon zitierten) Worte
seines ErzĂ€hlers zeigen, die insbesondere auf das âUngewöhnlicheâ im Sinne
des im unmittelbaren WortverstĂ€ndnis MerkwĂŒrdigen abheben : âDie Wahr-
scheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit
gröĂer als die, es zu erleben ; mit anderen Worten, im Abstrakten ereignet
sich heute das Wesentlichere, und das Belanglosere im Wirklichen.â (MoE 69)
Diese allgemeine Tendenz der Moderne, die Benjamin zufolge die Grundla-
gen des (konventionellen) ErzĂ€hlens zunehmend brĂŒchig erscheinen lĂ€sst227,
224 Benjamin : Ăber einige Motive bei Baudelaire, S. 611.
225 Vogt : Grundlagen narrativer Texte, S. 296, unter Verweis auf Baudrillard : Der symbolische
Tausch und der Tod.
226 In Baudrillards Theorie des âReal-ImaginĂ€renâ klingt subkutan stets eine Klage um die verlorene
Referenz der Diskurse auf eine soziale RealitĂ€t mit. WĂ€hrend fĂŒr ihn im âReal-ImaginĂ€renâ
alle soziale Determination durch ein allumfassendes Simulakrum aufgehoben ist, zeigt Musils
ErzÀhlkonstruktion unterhalb dieser Ebene der medialen Simulation von Wirklichkeit gerade
deren soziale Möglichkeitsbedingung, die freilich nicht als eindimensionale Determination zu
verstehen ist. Hinter jeder Aufhebung von Referenz steht bei ihm ebenjene gesellschaftliche
Referenz, die von diskursiver Referenzlosigkeit im Sinne einer ihr vorausgehenden Struktur
immer impliziert wird, aber so unsichtbar bleibt, dass der Eindruck des Abstrakten entsteht.
Vgl. dagegen Baudrillard : Der symbolische Tausch und der Tod, S. 18 : âDie Determination ist
tot, die Indetermination ist Königin. Es hat sich eine Ex-termination (im wörtlichen Sinne des
Terminus) der Produktion und des Realen der Signifikation vollzogen.â
227 Vgl. Benjamin : Ăber einige Motive bei Baudelaire, S. 611.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208