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411âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
TatsÀchlich war die schillernde historische Figur des am 24. Juni 1922 in
Berlin ermordeten AuĂenministers der Weimarer Republik bestens dazu
angetan, Musils Imagination, Reaktion und Eifersucht anzuregen, hatte der
Industriellensohn doch alles, was dem Professorensohn fehlte : körperliche
GröĂe, Reichtum und Erfolg. Die biografischen Vorgaben mussten freilich in
mehrerer Hinsicht modifiziert und der ErzÀhlintention angepasst werden,241
wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird. In diesem Kontext ist es signifi-
kant, dass Musil der literarischen Figur kaum ein einziges wirkliches Zitat aus
den Rathenauâschen Schriften in den Mund legt242, wie Stefan Howald eini-
germaĂen verblĂŒfft bemerkt : âAuch solche Stellen, die von Musil ausdrĂŒcklich
als Zitate aus Arnheims BĂŒchern bezeichnet werden (GW 1, 177 ; 194), lassen
sich im Werk Rathenaus in dieser Form nicht nachweisen. [âŠ] SinngemĂ€Ă
ĂŒbereinstimmende Stellen, inhaltliche wie terminologische Ăhnlichkeiten fin-
den sich [âŠ] hĂ€ufiger ; doch nimmt Musil insgesamt gewichtige inhaltliche
Verschiebungen vor.â243 Unter dem Eindruck des von ihm verurteilten politi-
schen Mordes244 hat der Autor offenbar den Namenswechsel seiner Romanfi-
gur von Rathenau zu Paul Arnheim vollzogen245 und damit die konzeptionelle
EigenstĂ€ndigkeit des Letzteren als âZeitfigurâ auch symbolisch besiegelt. Die
von Wilkins, Laermann und Corino in diesem Kontext angestellten weiterrei-
chenden Spekulationen zur Wahl des Namens Arnheim246 spielen im gegen-
241 Vgl. dazu Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 278 f.; Heimböckel : Ra-
thenau und die Literatur seiner Zeit, S. 30â32.
242 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 280 u. 284, Anm. 234. WĂ€hrend
Howald nur ein einziges Rathenau-Zitat identifiziert, hat Markner : Rathenau und Arnheim,
S. 391 f., dieselbe (MoE 197) und eine weitere, ideologiegeschichtlich weitaus zentralere und
mehrfach wieder aufgenommene Arnheim-Sentenz aus dem Mann ohne Eigenschaften (MoE
174, 197, 249 u. 327) auf eine Stelle aus Rathenaus Mechanik des Geistes zurĂŒckgefĂŒhrt.
243 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 280 f. Insofern kann der nicht recht
plausibilisierten Vermutung von Pott : Besitz und Bildung, S. 131, âdass die Schriften Rathenaus
fĂŒr Musil von groĂer Bedeutung und von groĂem Einfluss warenâ, in dieser PauschalitĂ€t kaum
beigepflichtet werden.
244 Vgl. dazu den Brief an Efraim Frisch, 1.7.1922 : âPlanen Sie irgendeinen Protest wegen Rathe-
nau ? KĂ€me wohl zu spĂ€t. Wenn es trotzdem geschehen sollte, bitte ich auf meinen AnschluĂ
zu rechnen, trotzdem ich literarisch zu seinen Gegnern zĂ€hlte.â (Br 1, 263) Zu den historischen
HintergrĂŒnden und Auswirkungen des Rathenau-Mordes vgl. Barnouw : ZeitbĂŒrtige Eigen-
schaften, S. 167â172 ; Schölzel : Rathenau, S. 370â377.
245 Vgl. Wilkins : Gestalten und ihre Namen, S. 49 ; Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideo-
logiekritik, S. 276 ; Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 231 ;
Corino : Musil [2003], S. 875.
246 Vgl. Wilkins : Gestalten und ihre Namen, S. 49 ; Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 97, Anm.
24 ; Corino : Musil [2003], S. 870.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208