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424 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
des geschĂ€ftstĂŒchtigen Vaters erscheint Arnheim â wie schon seinem histori-
schen Modell Rathenau288 â als rational nicht herleitbare Kompetenz, die der
Sohn aus der zweiten Generation zu einer voraussetzungslosen charismati-
schen Eigenschaft verklĂ€rt und im selben Atemzug als Argument fĂŒr seinen
eigenen kruden Antirationalismus in Anschlag bringt :
In den blanken GoldstĂŒcken spiegelte sich die Vernunft einer Familie, die sich em-
porgearbeitet hatte ! Er wĂŒrde es verachtet haben, sich seiner Familie zu schĂ€men,
im Gegenteil, er beharrte gerade in den höchsten Kreisen vornehm bescheiden auf
seiner Herkunft ; aber die Vernunft seiner Familie fĂŒrchtete er, als wĂ€re sie wie allzu
lebhaftes Sprechen und flatternde GebÀrden eine FamilienschwÀche, die ihn auf den
Höhen der Menschheit unmöglich mache. (MoE 543)
Arnheims skeptische Einstellung gegenĂŒber der âVernunft seiner Familieâ
kann sich aufgrund âseiner Herkunftâ aus einer sozial marginalisierten Mi-
noritĂ€t289, die zum Ăberleben in feindlicher Umgebung rational und rationell
denken muss, bis zur irrationalen Sehnsucht nach âinneren Stimmenâ (MoE
109) steigern â und befindet sich damit ĂŒbrigens wieder in einer gewissen
Analogie zum allerdings unfreiwillig âstimmenhörendenâ Moosbrugger. Diese
Haltung ist bezeichnend, steht sie doch nicht allein fĂŒr die implizite Anerken-
nung und Anverwandlung jener antisemitischen Stereotype, die seine eigene
soziale Position gefĂ€hrden290, sondern auch fĂŒr das schwer zu realisierende
DistinktionsbedĂŒrfnis eines Angehörigen der zweiten assimilierten Genera-
tion gegenĂŒber dem scheinbar allmĂ€chtigen Vater, dessen gesellschaftlicher
Aufstieg sich dem ökonomisch-technischen Rationalismus der GrĂŒnderzeit
verdankt. Musils soziologisch versierter ErzĂ€hler bemĂŒht sich in diesem Zu-
sammenhang um eine durchaus verstÀndnisvolle psychologische Motivie-
rung : âWahrscheinlich hatte seine Verehrung fĂŒr das Irrationale hier ihren
Ursprung. Der Adel war irrational : fast klang das wie ein Scherz ĂŒber MĂ€n-
gel adeligen Verstandes, aber Arnheim wuĂte, wie er es meinte.â (MoE 543)
288 Vgl. etwa Hellige : Rathenau : ein Kritiker der Moderne als Organisator des Kapitalismus, S. 34.
289 Auch der historische Rathenau hat offenbar alle erdenkliche MĂŒhe aufgewendet, um sich dem
mĂŒtterlichen (!) âVernunftdiktat zu entziehenâ : so Brenner : Rathenau, S. 18.
290 Zu Musils historischem Modell Walther Rathenau vgl. ebd.: âSein Judentum war Walther ein
ânotwendiger und geliebter Feindâ. Er bekĂ€mpfte ihn bei sich und bei anderen â und löste sich
deshalb nie von ihm.â (S. 12) âEs war ihm zur BĂŒrde geworden, mit der er kein glĂŒckliches
Leben mehr fĂŒhren konnte. Da er aber um jeden Preis glĂŒcklich werden wollte, beschloĂ er,
diese BĂŒrde loszuwerden. / Walther Rathenau sollte als erwachsener Mann nie wieder eine
Synagoge betreten.â (S. 63)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208