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430 Teil II: Romantext als Kräftefeld
Die Ausflüge in die Gebiete der Wissenschaften, die er unternahm, um seine allge-
meinen Auffassungen zu stützen, genügten freilich nicht immer den strengsten An-
forderungen. Sie zeigten wohl ein spielendes Verfügen über eine große Belesenheit,
aber der Fachmann fand unweigerlich in ihnen jene kleinen Unrichtigkeiten und
Mißverständnisse, an denen man eine Dilettantenarbeit so genau erkennen kann,
wie sich schon an der Naht ein Kleid, das von einer Hausschneiderin gemacht ist,
von einem unterscheiden läßt, das aus einem richtigen Atelier stammt. Nur darf man
durchaus nicht glauben, daß das die Fachleute hinderte, Arnheim zu bewundern.
(MoE 191)
Sein Buhlen um Anerkennung seitens der Wissenschaft ist umso auffallen-
der, als Arnheim sonst nicht müde wird, die Tyrannei des Verstandes über
das moderne Leben zu beklagen (vgl. etwa MoE 109). Der Erzähler und sein
Autor zeigen sich vom Arnheim’schen „Vielreden“ (MoE 189) indes keines-
wegs geblendet. So hat Musil bereits 1913 in seinem kleinen Essay Analyse und
Synthese warnend festgehalten : „Man sei gegen nichts so mißtrauisch wie ge-
gen alle Wünsche nach Entkomplizierung der Literatur und des Lebens, nach
homerischer oder religiöser Stimmung, nach Einheitlichkeit und Ganzheit.“
(GW 8, 1009) Nimmt man diese Worte als vorausschauenden Kommentar
des Autors zu seinen Figuren, dann scheint nicht nur Arnheim von Beginn an
äußerst kritisch perspektiviert, sondern auch das weitere Romanpersonal, das
am überkommenen Einheits- und Ganzheitsanspruch in der Moderne festhält
(wie Walter, Meingast, der Sektionschef Tuzzi oder dessen Gattin Diotima).299
ger Jahre, welche die „künstlerischen Intellektuellen“ als „Seitenstück“ zu den „intellektuelle[n]
Künstler[n]“ fasst und die ‚großzügige‘ Denkart beider in grelle Analogien bringt : „Beide Grup-
pen gelten als interessante Nicht-nur-Fach-Menschen und Befreier von engherziger Denkart.
Selbst der Tanz und der Generalstab sind nicht sicher vor ihnen gewesen. Im Tanz haben sie es
soweit gebracht, daß ihnen heute schon nichts Menschliches mehr fremd ist, bis auf das Tan-
zen. Im Krieg haben sie, ohne sich um Einzelheiten zu kümmern, ganze Divisionen hingeop-
fert oder die halbe Bewohnerschaft eines Etappengebiets aufknüpfen lassen, weil sie sich eine
gewisse heldische Großzügigkeit des Denkens schuldig zu sein glaubten. In der Wissenschaft
endlich sind sie heute mit der kahlen Genauigkeit unzufrieden, die das Ideal ihrer Lehrer ge-
bildet hat, und neben den zeitfremden/gestrigen Gelehrten, die noch artig wägen, messen und
Koeffizienten bestimmen, gibt es heute schon viele, die einen gewissen Phantasieschwung auch
am Wissenden für unerlässlich halten. Sie opfern Einzelheiten mit dem gleichen Großmut wie
die Generalstäbler.“ (MoE 1550 f., nach M VII/4/22)
299 Demgegenüber meint Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 2, S. 284, das
„große Projekt des Mannes ohne Eigenschaften“ bestehe selber darin, „den utopischen, aber
sich immer wieder aus inneren Erfahrungen erneuernden Ganzheitsanspruch mit den exakten
Methoden und Ergebnissen moderner Wissenschaft zu überprüfen und womöglich nachzu-
vollziehen und zu begründen. Dieses Projekt erlaubt einerseits kein Zurückweichen vor der
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208