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431âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Von einer Gleichsetzung wissenschaftlichen Spezialistentums mit den diver-
sen âReprĂ€sentanten disparater âEigenschaftenââ300 im pejorativen, weil defizi-
tÀren Sinn kann hingegen nicht ernsthaft die Rede sein.301 Zwar weià Musil
um die Problematik der âVerarmung des inneren Ganzen zum Vorteil ein-
zelner Teileâ bzw. der âExistenz gewaltiger Spezialgehirne in Kinderseelenâ,
wie er ebenfalls 1913 im wichtigen Aufsatz Politisches Bekenntnis eines jungen
Mannes. Ein Fragment zeigt, doch Àndert das nichts an seiner grundsÀtzlichen
Haltung : Demnach steht es fĂŒr ihn fest, âdaĂ wir die so errungenen Vorteile
niemals wieder preisgeben werden und daĂ wir die SchĂ€digungen ĂŒberwinden
können. Und daà wir gewinnen werden, wenn wir die Entwicklung, die bisher
gefĂŒhrt hat, noch ĂŒbertreiben.â (GW 8, 1012 f.)
Es stellt sich mithin die Frage, weshalb der Universaldilettant Arnheim
auch von verdienstvollen Wissenschaftlern so geschÀtzt oder zumindest öf-
fentlich gelobt wird.302 Musils ironisch-ideologiekritischer ErzÀhler weicht
diesem delikaten Problem nicht aus. Zum einen sucht er sie durch den Verweis
auf die spezifische Habitusstruktur des Nabobs zu beantworten, die weithin
sichtbar âGanzheitlichkeitâ suggeriert :
Er besaĂ das Talent, niemals in etwas Nachweisbarem und Einzelnem ĂŒberlegen zu
sein, wohl aber durch ein flieĂendes und jeden Augenblick sich aus sich selbst er-
neuerndes Gleichgewicht in jeder Lage obenauf zu kommen, was vielleicht wirklich
Moderne, kein sacificium intellectus, nötigt andererseits aber auch nicht zur Selbstauslieferung an
die atomisierende Empirie der modernen Einzelwissenschaften.â Musil versuche, âzwischen ei-
ner falschen Ganzheitsideologie und einem genuinen und verantwortbaren Ganzheitsanspruch
zu unterscheidenâ. TatsĂ€chlich begegnet an zahlreichen Stellen des Romans eine vom ErzĂ€h-
ler ausgedrĂŒckte Sympathie fĂŒr die Sehnsucht zahlreicher Romanfiguren â inklusive Ulrichs
â nach Ganzheit. Aus der Darstellung dieses allgemein anthropologischen BedĂŒrfnisses folgt
aber nicht notwendig dessen ontologische Rechtfertigung oder gar Affirmation.
300 So Schmidt ebd., S. 285.
301 So hĂ€lt der ErzĂ€hler zum âWesen der Wissenschaftâ zwar (nicht ohne Ironie) fest : âDie Wis-
senschaft steht bei uns in hohem Ansehen, und mit Recht ; aber wenn es auch sicher ein Men-
schenleben ganz ausfĂŒllt, wenn man sich der Erforschung der NierentĂ€tigkeit widmet, so gibt
es doch Augenblicke dabei, wo man sich veranlaĂt sieht, humanistische Augenblicke will dies
sagen, an den Zusammenhang der Nieren mit dem Volksganzen zu erinnern. Darum wird in
Deutschland so viel Goethe zitiert.â (MoE 191) In der Folge wird dieses antispezialistische,
humanistisch-ganzheitliche Begehren allerdings dadurch relativiert, dass es auf ein recht ego-
istisches Distinktionsstreben der âAkademikerâ zurĂŒckgefĂŒhrt wird, die sich dadurch nicht nur
âEhreâ machen, sondern vor allem sich davon âEhreâ versprechen (MoE 191).
302 Vom historischen Walther Rathenau ĂŒbrigens schwĂ€rmte etwa der berĂŒhmte amerikanische
Erfinder Thomas Alva Edison entsprechend : âHe knows things, I have no idea of.â Zit. nach
Brenner : Rathenau, S. 16.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208