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437âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Disposition relativ einfach wieder vernichtet werden kann, wenn sie allein auf
ökonomischem Kapital beruht. Dieses nĂ€mlich wird âdurch Schenkung, Ver-
erbung, Kauf oder Tausch kurzfristig weitergegebenâ oder auch verloren, ist
jedenfalls stets von einer Person zur anderen ĂŒbertragbar, wĂ€hrend kulturelles
Kapital faktisch inkorporiert wird, also âzu einem festen Bestandteil der âPer-
sonâ, zum Habitusâ gehört und somit an seinen Besitzer gebunden bleibt.310
Umso gröĂer scheint die VerdrĂ€ngungsleistung, die Arnheim vollbringt, indem
er die von Musil diagnostizierte menschliche âGestaltlosigkeitâ durch die illusio
eines ânaturgegebenenâ Reichtums verschleiert : Er sei âdurch die Stelle, auf
der [er] geborenâ, dazu âbestimmt wordenâ, ein âWeltgeschĂ€ftâ zu âbetreibenâ
(MoE 269). Ulrich hingegen, dessen habituelles SelbstverstÀndnis auf seinem
ganz und gar âverinnerlichtenâ kulturellen Kapital beruht, akzeptiert die auch
von Simmel diagnostizierte311 âEigenschaftslosigkeitâ in der durch die Geld-
wirtschaft geprÀgten modernen Welt. Diese chiastische Struktur wird durch
folgende Reflexion Arnheims auf die Spitze getrieben :
Nur Leute, die kein Geld haben, stellen sich Reichtum wie einen Traum vor ; Men-
schen, die ihn besitzen, beteuern dagegen bei jeder Gelegenheit, wo sie mit Leu-
ten zusammentreffen, die ihn nicht besitzen, welche Unannehmlichkeit er bedeute.
Arnheim hatte zum Beispiel oft darĂŒber nachgedacht, daĂ ihn doch eigentlich jeder
technische oder kaufmÀnnische Abteilungsleiter seines Hauses an besonderem Kön-
nen betrĂ€chtlich ĂŒbertreffe, und er muĂte es sich jedesmal versichern, daĂ, von einem
genĂŒgend hohen Standpunkt betrachtet, Gedanken, Wissen, Treue, Talent, Umsicht
und dergleichen als Eigenschaften erscheinen, die man kaufen kann, weil sie in HĂŒlle
und FĂŒlle vorhanden sind, wogegen die FĂ€higkeit, sich ihrer zu bedienen, Eigenschaf-
ten voraussetzt, welche nur die wenigen besitzen, die eben schon auf der Höhe gebo-
ren und aufgewachsen sind. (MoE 419 f.)
Die Welt in Arnheims Kopf erhÀlt ihren Reiz durch eine provokante Inversion
von Strukturen der Ă€uĂeren Welt : Er glaubt, Begabungen und LoyalitĂ€t mit
Geld kaufen zu können, so dass gerade inkorporiertes kulturelles Kapital als
âeigenschaftslosâ erscheint, wĂ€hrend ihm umgekehrt Reichtum, der jederzeit
zu Nichts zusammenschmelzen kann, als höchste âEigenschaftlichkeitâ gilt.
310 Vgl. dazu Bourdieu : Ăkonomisches Kapital â Kulturelles Kapital â Soziales Kapital, S. 55â59 u.
70â75, Zit. S. 56.
311 Vgl. Simmel : Philosophie des Geldes, S. 595, zur âCharakterlosigkeit des Geldes. Wie es an
und fĂŒr sich der mechanische Reflex der WertverhĂ€ltnisse der Dinge ist und allen Parteien sich
gleichmĂ€Ăig darbietet, so sind innerhalb des GeldgeschĂ€ftes alle Personen gleichwertig, nicht
weil jede, sondern weil keine etwas wert ist, sondern nur das Geld.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208