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443âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Von bloĂem Anpasslertum oder prinzipienloser Wendehalsigkeit kann also
keine Rede sein. Um freilich auch gegenteiligen MissverstÀndnissen zuvor-
zukommen, schrĂ€nkt der ErzĂ€hler im selben Atemzug ein : âAber mit dieser
Leistung war seine Gegenstellung erschöpft, und ein gröĂerer Gegensatz
wĂ€re ihm schon lebensungerecht erschienen.â (MoE 388) Arnheim ist alles
andere als ein RevolutionÀr, aber eben auch kein Agent des in den deutsch-
sprachigen LĂ€ndern vor dem Ersten Weltkrieg als politische GröĂe durchaus
ernst zu nehmenden Monarchismus, sondern ein Vertreter des (besitz)bĂŒrger-
lichen Leistungsprinzips :
Er war wohl innerlich ĂŒberzeugt, daĂ die schaffenden Menschen â und an ihrer
Spitze, sie zu einem neuen Zeitalter zusammenfassend, die das Leben lenkenden
Kaufleute â berufen seien, die alten MĂ€chte des Seins irgendwann in der Herrschaft
abzulösen, und das gab ihm einen gewissen stillen Hochmut, dem die seither einge-
tretene Entwicklung das Zeugnis der Berechtigung ausgestellt hat [âŠ]. (MoE 388)
Der dennoch aristokratisch auftretende wirtschaftsliberale GroĂkaufmann
weiĂ die geschichtliche Notwendigkeit auf seiner Seite. Wie unten noch ge-
nauer auszufĂŒhren sein wird, fungiert er im Bourdieuâschen Sinn als âTrojani-
sches Pferdâ324 der âHerren PrĂ€sidenten, AufsichtsrĂ€te, Generaldirektoren und
Direktoren der Banken, HĂŒtten, Konzerne, Bergwerke und Schiffahrtsgesell-
schaftenâ in den anderen gesellschaftlichen Feldern, namentlich im kulturel-
len :
Abgesehen von ihrem sehr entwickelten Familiensinn, ist die innere Vernunft ihres
Lebens die des Geldes, und das ist eine Vernunft mit sehr gesunden ZĂ€hnen und
schlichtem Magen. Sie alle waren ĂŒberzeugt, daĂ die Welt viel besser wĂ€re, wenn
man sie einfach dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage ĂŒberlieĂe, statt Panzer-
schiffen, Bajonetten, MajestÀten und wirtschaftsunkundigen Diplomaten ; bloà weil
die Welt ist, wie sie ist, und einem alten Vorurteil zuliebe ein Leben, das zuerst dem
eigenen und dadurch erst dem allgemeinen Vorteil dient, tiefer bewertet wird als Rit-
terlichkeit und Staatsgesinnung, und StaatsauftrÀge moralisch höher stehen als pri-
vate, waren sie die letzten, nicht damit zu rechnen, und machten sich bekanntlich die
Vorteile, die bewaffnete Zollverhandlungen oder gegen Streikende eingesetztes Mi-
324 Vgl. Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 350, wonach âdie den internen Werten und Wahrhei-
ten am vollstĂ€ndigsten ergebenen Produzenten [âŠ] durch jenes âTrojanische Pferdâ, das die
externer Nachfrage zugĂ€nglichen Schriftsteller und KĂŒnstler darstellen, erheblich geschwĂ€cht
[werden]â.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208