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444 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
litĂ€r dem öffentlichen Wohl bieten, krĂ€ftig zunutze. Auf diesem Wege fĂŒhrt aber das
GeschÀft zur Philosophie, denn ohne Philosophie wagen heute nur noch Verbrecher
anderen Menschen zu schaden, und so gewöhnten sie sich daran, in Arnheim junior
eine Art vatikanischen Vertreters ihrer Angelegenheiten zu erblicken. (MoE 192 f.)
Da dessen âErfolge fĂŒr das GeschĂ€ftâ des vĂ€terlichen Unternehmens, aber
auch der Wirtschaft generell âebenso bedeutend wie geheimnisvollâ sind,
kann er sich trotz oder gerade wegen seiner âlau-warmen Rhetorik der Seele,
der Moral und einer kulturkritischen antimaterialistischen Polemikâ325 im Feld
der Macht allgemeiner Beliebtheit erfreuen. Eine ideologische Voraussetzung
dafĂŒr ist Arnheims ablehnende Haltung gegenĂŒber dem von Ulrich vertrete-
nen âPDUGâ, dem âPrinzip des unzureichenden Grundesâ (MoE 133 f.), die
sich etwa in seiner euphemistischen EinschÀtzung des Resultats der ersten
Parallelaktionssitzung bei Diotima manifestiert : â[S]chon die Tatsache, daĂ
eine Zusammenkunft wie die heutige irgendwo möglich gewesen sei, beweise
ihre tiefe Notwendigkeitâ, denn âin der Weltgeschichte geschieht nichts Un-
vernĂŒnftiges.â (MoE 174) Diese eigenwillige Argumentation, die in ihrem Op-
timismus ein etwas verballhorntes Hegel-Zitat darstellt326 und auf einem un-
erschĂŒtterlichen Vertrauen in das âPrinzip des zureichenden Grundesâ beruht,
wiederholt Arnheim gebetsmĂŒhlenartig und begrĂŒndet sie mit einer vulgĂ€r-
325 So kritisch Blaschke : Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 305. In diesem Zusammen-
hang wird deutlich, warum Blaschke zu kurz greift, wenn er Arnheim (allein) âseiner im Ver-
gleich mit dem liberalistischen modernen homo oeconomicus Fischel feigen und opportunis-
tischen KompromiĂbereitschaft mit den alten MĂ€chten der Kirche und des Staatesâ ĂŒberfĂŒh-
ren zu mĂŒssen glaubt. Es sind ja gerade Arnheims âChamĂ€leons-Misch-Ideenâ (S. 313), sein
angeblich âfauler KompromiĂ im MaĂanzug â zwischen brillantem homo oeconomicus und
metaphysischem Trivial-Idealistenâ (S. 305), die in ihrer konstitutiven WidersprĂŒchlichkeit
seine strukturelle ModernitÀt und seinen Erfolg ausmachen : Musil zufolge bedarf es eben der
âPhilosophieâ, um anderen Menschen erfolgreich âschadenâ (oder auch nĂŒtzen) zu können â
wie nicht zuletzt an den Euphemisierungsstrategien gegenwÀrtiger Wirtschaftsunternehmen
oder Politik abzulesen ist, die man gemeinhin unter legitimer âWerbungâ subsumiert und die
keineswegs nur ökonomischen Klartext verbreiten. Blaschkes âökonomisch kalkulierte Markt-
nischen-Besetzungâ innerhalb der Musil-Forschung, die erklĂ€rtermaĂen auf die angeblich pro-
liferierende âSerienfertigung neomarxistischer Deutungenâ antwortet und sich selbstbewusst
âals destruktiv-innovative Avantgarde-Aktionâ gegenĂŒber den âvorliegenden ideologiekritisch
verengten literaturwissenschaftlichen Arbeitenâ versteht, kĂ€mpft nicht nur gegen mittlerweile
bejahrte Feinde an, sondern erzeugt in ihrem ausschlieĂlichen Willen, âes anders zu probierenâ
(alle Zitate S. 302, Anm. 47), ebensolche Verengungen wie die von ihr inkriminierten Àlteren
Untersuchungen. Zur tatsĂ€chlich widersprĂŒchlichen ModernitĂ€t des historischen Rathenau vgl.
Barnouw : ZeitbĂŒrtige Eigenschaften, S. 170 f., zu Musils Deutung ebd., S. 180 u. 183 f.
326 Vgl. Freese : AnsÀtze einer Hegel-Satire, S. 182.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208