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453âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
als legitimer Transformationsmodus der Felder der Kulturproduktionâ350 ein
entscheidendes und distinktives Merkmal kĂŒnstlerischer Moderne und ihrer
Avantgardebewegungen ist, dann erweist sich Arnheims traditionalistisches
und antirevolutionĂ€res KunstverstĂ€ndnis als eindeutig rĂŒckwĂ€rtsgewandt. Der
Nabob vertritt die Meinung, âwirtschaftlicheâ AktivitĂ€t sei âeben keine TĂ€tig-
keit, die sich von den ĂŒbrigen geistigen TĂ€tigkeiten absondern lieĂe !â (MoE
421) Er weigert sich beharrlich, die unterschiedlichen Logiken des ökonomi-
schen und des literarischen Feldes als solche anzuerkennen, wie eine gegen-
ĂŒber Diotima gemachte Bemerkung verrĂ€t :
Ich möchte es in Gegenwart Ihres Vetters nicht dem Spott aussetzen, [âŠ] aber es
liegt mir daran, Sie etwas fĂŒhlen zu lassen, worauf Sie als Fernestehende kaum von
selbst kommen könnten : den Zusammenhang zwischen GeschÀft und Dichtung. Ich
meine natĂŒrlich das GeschĂ€ft im groĂen, das WeltgeschĂ€ft [âŠ] ; es ist verwandt mit
der Dichtung, es besitzt irrationale, ja geradezu mystische Seiten ; ich möchte sogar
sagen, besonders das GeschĂ€ft besitzt sie. Sehen Sie wohl, das Geld ist eine auĂeror-
dentlich unduldsame Macht. (MoE 269)
Die unausgesprochene Grundlage dieser bezeichnenden Analogiebildung,
der man in wirtschaftstheoretischer Hinsicht sogar Triftigkeit zugesprochen
hat351, ist ein hoffnungslos veraltetes Kunst- und LiteraturverstÀndnis, das auf
die â womöglich unmittelbar greifbare â âLebenshaltigkeitâ und âLebensnĂ€heâ
kultureller Artefakte sowie gleichzeitig auf ihre âwesensmĂ€Ăigeâ IrrationalitĂ€t
pocht :
Wenn ein GeschÀft eine Ausbreitung erreicht wie die ganz wenigen, von denen ich
hier spreche, so gibt es kaum eine Angelegenheit des Lebens, mit der es nicht ver-
flochten wĂ€re. Es ist ein Kosmos im kleinen. Sie wĂŒrden staunen, wenn Sie wĂŒĂten,
welche scheinbar ganz unkommerziellen Fragen, kĂŒnstlerische, moralische, poli-
tische, ich zuweilen in den Unterredungen mit dem Seniorchef zur Sprache bringen
muĂ. Aber die Firma schieĂt nicht mehr so in die Höhe wie in den Anfangszeiten, die
ich die heroischen nennen möchte. Es gibt auch fĂŒr GeschĂ€fte trotz allen Wohlerge-
hens eine geheimnisvolle Grenze des Wachstums wie fĂŒr alles Organische. Haben Sie
350 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 347 ; mehr dazu ebd., S. 322 f. u. 379â384.
351 Vgl. die AusfĂŒhrungen von Blaschke : Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 311 f., der
sich von Arnheims âentfernt an die Schumpetersche Konzeption des innovativen dynamischen
Unternehmers erinnernde[r] Zeichnung des GeschĂ€ftsmanns als poetischem Schöpferâ selbst
âbeeindrucktâ zeigt.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208