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460 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
âAutoritĂ€tsbedĂŒrfnis im Geistigenâ wie im Politischen einflieĂen375, existieren
ganz unterschiedliche, ja kontrĂ€re Deutungen : Paradigmatisch fĂŒr die âideo-
logiekritischeâ Forschung der siebziger und frĂŒhen achtziger Jahre ist die Di-
agnose der Figur des Grafen als âĂbergangsexistenzâ im gesellschaftlichen
Umbruch, wie sie etwa Howald in orthodox marxistischer Begrifflichkeit vor-
getragen hat : âIn Leinsdorf zeichnet Musil [âŠ] den konzeptiven Ideologen
des Adels, der im Ăbergang von der feudalistisch zur bĂŒrgerlich beherrschten
Gesellschaft fĂŒr seine Klasse zu retten sucht, was zu retten ist.â376 SchĂ€rfer noch
urteilt Bernd Blaschke, der trotz seiner harschen Polemik gegen jede Form von
Ideologiekritik ebenfalls aus einem ĂŒberlegenen geschichtsphilosophischen
Blickwinkel von âLeinsdorfs ideologisch-anachronistische[m] Mischmaschâ
spricht, welcher âin Gegensatzâ stehe âzu Ulrichs und Arnheims philosophisch
hochreflektierten Diskursen, an denen einfache Reduzierungen ideologiekriti-
scher Manier meist abprallenâ.377 Mehr noch : Die âmultiple[n] polit-ökonomi-
schen Rhetorikenâ des Grafen seien im Roman bloĂ ein rĂŒckwĂ€rtsgewandter
Ausdruck der âopportunistischen, um Gesellschaftssynthese bemĂŒhten Fens-
terreden eines StaatstrĂ€gersâ, âder allerdings seine oxymorischen Synthesen
und Vereinnahmungen aufgrund seiner doktrinÀren religiös-konservativen Bil-
dung am Ende selber noch glaubtâ.378 Einer so lĂ€cherlichen literarischen Figur
wÀre tatsÀchlich kaum analytisches Interesse entgegenzubringen.
In eine gegenteilige Richtung zielt die systemtheoretisch inspirierte und
weniger apodiktische Deutung von Ingrid Berger, deren interpretatorischer
Fokus auf die mit der funktionalen Ausdifferenzierung moderner westlicher
Gesellschaften einhergehende VervielfÀltigung der Rollenmuster bzw. auch
der Persönlichkeitsstrukturen abhebt und somit eine dezidiert moderne Fa-
cette der Figurengestaltung betont : âGraf Leinsdorf wird als multiple Per-
375 Vgl. in Musils Arbeitsheft 8 das Exzerpt aus Karl Ludwig Schleichs Aufsatz Die Physiologie des
Ichs, der im Mai 1920 in der Neuen Rundschau erschienen ist : â[S]o mĂŒssen wir in ehrfurchts-
voller Demut, auch in der Politik, dem fest Gewordenen seine Naturbestimmung lassen. Das
ist der Sinn einer konservativen Aristokratie, die es auch im Volksstaat immer geben wird,
die nur ein Irrwahn des Neuschaffens aus Nichts, ohne Tradition, mit HaĂ bekĂ€mpfen kann !â
Dazu Musils spöttischer Kommentar : âEs ist anzunehmen, daĂ er in sich selbst eine solche zu
respektierende AutoritÀt sieht. Er hat Verdienste. Und ist doch in menschlichen Fragen ein
Terrakottagnomenstilist. MĂŒĂte man die Geistigen nicht bloĂ wie eine heilige Herde abseits
hĂŒten ? Jedenfalls ist es ein achtbarer deutscher Irrtum, aus dem AutoritĂ€tsbedĂŒrfnis im Geisti-
gen unmittelbar auf das Politische zu schlieĂen.â (Tb 1, 375) Im Anschluss an diese Ăberlegun-
gen erwÀgt Musil deren Verwertung in seinem Romanprojekt.
376 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 253.
377 Blaschke : Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 314.
378 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208