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462 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Religiös und feudal erzogen, niemals im Verkehr mit bĂŒrgerlichen Menschen dem
Widerspruch ausgesetzt, nicht unbelesen, aber durch die Nachwirkung der geist-
lichen PĂ€dagogik, die seine Jugend behĂŒtet hatte, zeitlebens gehindert, in einem Buch
etwas anderes zu erkennen als Ăbereinstimmung oder irrende Abweichung von sei-
nen eigenen GrundsĂ€tzen, kannte er das Weltbild zeitgemĂ€Ăer Menschen nur aus
den Parlaments- und ZeitungskĂ€mpfen ; und da er genug Wissen besaĂ, um die vielen
OberflÀchlichkeiten in diesen zu erkennen, wurde er tÀglich in seinem Vorurteil be-
stĂ€rkt, daĂ die wahre, tiefer verstandene bĂŒrgerliche Welt nichts anderes sei, als was
er selbst meine. (MoE 89 f.)
Mit knappen Worten384 entwirft Musil am Beispiel Leinsdorfs gleichsam ide-
altypisch die relativ starren gesellschaftlichen Vorstellungen des kakanischen
Hochadels vor Kriegsausbruch, die sich einerseits einer Ă€uĂerst rigiden Sozi-
alisation in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts verdanken, andererseits
einer âVerschĂ€rfung der ExklusivitĂ€tsregelnâ, die âim Hochadelâ um und nach
1900 mit der inflationĂ€ren âSchaffung von zahlreichen Adelstitelnâ durch
Nobilitierung einherging.385 Ihre symbolische Entsprechung findet dies un-
ter anderem in einer fĂŒr die Nachgeborenen merkwĂŒrdig steif wirkenden
sprachlichen Ausdrucksweise386 in öffentlichen Belangen : So sieht Musil den
ĂŒberkommenen aristokratischen Habitus etwa in der zeremoniösen Wendung
âAllerhöchste Willensmeinungâ (MoE 195 ; vgl. MoE 226 u. 363) kondensiert,
die ihn in ihrem eklatanten Byzantinismus dermaĂen begeistert, dass er sie un-
ter dem Stichwort âBezeichnender Ausdruckâ in sein Arbeitsheft 21 eintrĂ€gt und
spöttisch kommentiert : âEr will nicht, er meint bloĂ. Wollen wĂ€re unfein.â (Tb
1, 581) Ăber seine klassentypischen sprachlichen Charakteristika hinaus pflegt
Graf Leinsdorf generell einen ausgesprochenen StandesdĂŒnkel, oder freund-
licher formuliert : Er verfĂŒgt ĂŒber einen ausgeprĂ€gten sense of oneâs place. So
mokiert er sich gegenĂŒber dem promovierten Ulrich in bezeichnender Weise
darĂŒber, dass âLeute aus meinen Kreisen, entschuldigen Sie, den Doktortitel
erwerbenâ (MoE 189) â dass also Angehörige des kakanischen Hochadels,
384 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 251 : âVon Leinsdorfs Lebenslauf
erfahren wir [âŠ] praktisch nichts ; eine andere Stellung als die des Grossgrundbesitzers, der
[âŠ] nie auf einen Beruf oder eine politische Karriere angewiesen ist, scheint schwer vorstell-
bar.â Howald unterschlĂ€gt hier freilich die soziologisch durchaus relevanten AuskĂŒnfte des
ErzĂ€hlers ĂŒber den Grafen, die hier im Folgenden rekonstruiert werden.
385 Pollak : Wien 1900, S. 71.
386 Aus dem Liechtenstein-Nachruf der Neuen Freien Presse (vgl. Tb 2, 227) hatte Musil dement-
sprechend folgende habituelle Charakteristika des Aristokraten in sein Arbeitsheft 8 exzerpiert :
âTrocken, steif. Frostig.â (Tb 1, 366)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208