Seite - 464 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 464 -
Text der Seite - 464 -
464 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
beruflicher Hinsicht â im Gegensatz etwa zu seinem ideologischen Modell
Liechtenstein, aber auch zu seinem romanesken Freund (vgl. MoE 226) und
Standesgenossen Graf Stallburg, dem âehemaligen PrĂ€sidenten der Rech-
nungskammer und jetzigen Vorsitzenden der Allerhöchsten Familiengerichts-
partikularitĂ€t beim Hofmarschallamtâ (MoE 78) â Privatier ist und ganz damit
beschĂ€ftigt, seine ererbten GĂŒter und ReichtĂŒmer zu verwalten. In der eben
bereits angefĂŒhrten, stets typografisch hervorgehobenen euphemistischen For-
mel ausgedrĂŒckt : âFĂŒr seine Person war Se. Erlaucht [âŠ] ânichts als Patriotâ.â
(MoE 98) Nicht zuletzt aus seiner Stellung als GroĂgrundbesitzer und den da-
mit einhergehenden Rechten und Verpflichtungen resultiert indes sein charak-
teristischer Paternalismus. Hinsichtlich seiner politischen Haltung stiftet sich
also eine weitere habituelle Analogie zwischen ihm und Ulrichs Vater, den er ja
gut kennt und schÀtzt (vgl. MoE 839 f.). Wie dieser glaubt Leinsdorf an die Fes-
tigkeit der Welt und die in einer göttlichen Ordnung gegrĂŒndete Notwendig-
keit der bestehenden sozialen und wirtschaftlichen VerhÀltnisse im Sinne des
bereits mehrfach angesprochenen âSoziodizeeâ-Gedankens.390 Im scheinbaren
Widerspruch zu der ihr zugrunde liegenden Ăberzeugung von der unabĂ€nder-
lichen Sinnhaftigkeit des Bestehenden schlieĂt diese Haltung einen tatkrĂ€ftigen
politischen Einsatz zur Beförderung des als ârichtigâ Erkannten â bzw. zur allge-
meinen Durchsetzung der eigenen Ansichten â keineswegs aus :
Die ethische Verpflichtung, nicht ein gleichgĂŒltiger Zuschauer zu sein, sondern der
Entwicklung âvon oben helfend die Hand zu bietenâ, durchdrang sein Leben. Er war
vom âVolkâ ĂŒberzeugt, daĂ es âgutâ sei ; da nicht nur seine vielen Beamten, Angestellten
und Diener von ihm abhingen, sondern in ihrem wirtschaftlichen Bestehen zahllose
Menschen, hatte er es nie anders kennengelernt, ausgenommen die Sonn- und Fei-
ertage, wo es als freundlich buntes Gewimmel aus den Kulissen quillt wie ein Opern-
chor. (MoE 89)
Das zuletzt angefĂŒhrte Bild impliziert eine harmonistische Vorstellung
âvom âVolkââ, wie sie etwa im Osterspaziergang aus Goethes Faust I evoziert
wird.391 Und wo sich die Harmonie nicht von alleine einstellt, muss ihrem
Entstehen eben nachgeholfen werden. Dazu dient dem Grafen insbesondere
auch die Parallelaktion, die an die obrigkeitlich initiierten, aber historisch
gescheiterten groĂösterreichischen und antipreuĂischen Bestrebungen des
390 Vgl. die einschlÀgigen Bemerkungen in den Kap. I.3.1 und I.3.2 sowie oben im Abschnitt zu
Arnheim.
391 Vgl. Goethe : Faust, S. 48â54, bes. S. 51 f. [V. 916 ff.].
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208