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468 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
So religiös Se. Erlaucht war, so wenig verschloà er sich, als ein von Verantwortung
durchdrungener Geist, der ĂŒberdies auf seinen GĂŒtern Fabriken betrieb, der Erkennt-
nis, daĂ sich heute der Geist in vielem der Bevormundung durch die Kirche entzogen
habe. Denn er konnte sich nicht vorstellen, wie zum Beispiel eine Fabrik, eine Bör-
senbewegung in Getreide oder eine Zuckerkampagne nach religiösen GrundsÀtzen
zu leiten wĂ€ren, wĂ€hrend andrerseits ohne Börse und Industrie ein moderner GroĂ-
grundbesitz rationell nicht zu denken ist ; und wenn Se. Erlaucht den Vortrag seines
Wirtschaftsdirektors empfing, der ihm zeigte, daà in Verbindung mit einer auslÀn-
dischen Spekulantengruppe ein GeschÀft besser zu machen sei als an der Seite des
heimischen Grundadels, so muĂte Se. Erlaucht sich in den meisten FĂ€llen fĂŒr das
erste entscheiden, denn die sachlichen ZusammenhÀnge haben ihre eigene Vernunft,
der man sich nicht einfach nach GefĂŒhl entgegenstellen kann, wenn man als Leiter
einer groĂen Wirtschaft die Verantwortung nicht fĂŒr sich allein, sondern auch fĂŒr un-
gezÀhlte andere Existenzen trÀgt. Es gibt etwas wie ein fachliches Gewissen, das un-
ter UmstĂ€nden dem religiösen widerspricht, und Graf Leinsdorf war ĂŒberzeugt, daĂ
selbst der Kardinal Erzbischof dabei nicht anders handeln könnte als er. (MoE 99)
Wie diese Darstellung deutlich macht, ist Leinsdorf sich der Existenz unter-
schiedlicher, zum Teil antagonistischer Logiken des Denkens und Handelns â
etwa einer ökonomischen im Gegensatz zu einer religiösen â wohl bewusst.403
Der augenfĂ€llige Hiat zwischen dem âmodernenâ ökonomischen KalkĂŒl und
einer antimodernen stÀndischen Ideologie in einer einzigen Figur wird vom
ErzĂ€hler nicht nur ausdrĂŒcklich thematisiert. Mittels eines zwar treffenden,
doch unvermittelten und deshalb komisch anmutenden Vergleichs aus der
Elektrophysik bzw. Kybernetik404, der die eingeschliffene Automatik der kon-
textabhĂ€ngigen Leinsdorfâschen Diskurswechsel aufs Korn nimmt, erscheint
er zudem der LĂ€cherlichkeit preisgegeben :
403 Vgl. Berger : Musil mit Luhmann, S. 150 : âJe nach Situation werden die Eigenschaften mobi-
lisiert, die von den Sachverhalten der Umwelt diktiert werden.â Dies fĂŒhre allerdings zu pro-
blematischen Konsequenzen, wie ganz unironisch konstatiert wird : âDie Folge davon ist das
GefĂŒhl der Entfremdung, das GefĂŒhl der Ohnmacht.â
404 Wenn Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 254 f., das im Folgenden wie-
dergegebene ânaturwissenschaftliche Bild einer strikten psychischen Arbeitsteilungâ zwischen
den unterschiedlichen Diskursen dahingehend kritisiert, dass es âin seiner ErklĂ€rungskraft be-
grenztâ bleibe und auĂerdem âin Widerspruch zu Musils gleich anschlieĂender Darstellungâ
der Leinsdorfâschen Versuche einer Verarbeitung des Gegensatzes stehe, dann ĂŒbersieht er die
Ironie, die Musils spöttischem Vergleich zugrunde liegt. Entsprechendes gilt hinsichtlich des
angeblichen Widerspruchs zwischen Leinsdorfs Vorliebe fĂŒr Gleichnisse und seiner behaupte-
ten charakterlichen âFestigkeitâ, die ebenfalls nicht ironiefrei konstatiert wurde (vgl. oben).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208