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469âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Freilich war Graf Leinsdorf auch jederzeit bereit, dies in öffentlicher Herrenhaus-
sitzung zu bedauern und die Hoffnung auszusprechen, daĂ das Leben zu der Ein-
fachheit, NatĂŒrlichkeit, ĂbernatĂŒrlichkeit, Gesundheit und Notwendigkeit der
christlichen GrundsĂ€tze wieder zurĂŒckfinden werde. Das war, sobald er zu solchen
AusfĂŒhrungen den Mund öffnete, wie wenn man einen Kontaktstöpsel herausgezo-
gen hÀtte, und er floà in einem anderen Stromkreis. (MoE 99)
Musils beiĂende Ironie entsteht durch den unkonventionellen Vergleich zwi-
schen Diskurswechsel und Relais. Die damit bloĂgestellte, gleichsam auto-
matenhaft reaktivierbare naive ReligiositÀt des steinreichen Grafen, die jeder
Grundlage in seiner ârealenâ sozialen Praxis entbehrt, hat eine recht handfeste
politische Funktion, denn sie dient als âformelhafte Einschleifung[ ]â405 einer
Rechtfertigung des gesellschaftlichen Status quo, befördert als âSoziodizeeâ
indirekt den adeligen Privilegien- und Besitzerhalt und stĂŒtzt insgesamt die
StabilitÀt der kakanischen Gesellschaftsordnung, deren dynastisch und stÀn-
disch legitimiertes Fundament lĂ€ngst brĂŒchig geworden ist. Indem er aber in
seiner wirtschaftlichen Gebarung ganz anderen, ja kontrÀren Prinzipien folgt
als in seinen öffentlichen Verlautbarungen406, erweist sich der reichsunmittel-
bare Graf als exemplarischer Vertreter nicht nur seines privilegierten Standes,
sondern eines gelÀuterten Konservativismus insgesamt, der gern im modernen
Gewand daherkommt und einer zeitgemĂ€Ăen Doppelmoral entspricht :
Ăbrigens geht es den meisten Menschen so, wenn sie sich öffentlich Ă€uĂern ; und
wenn jemand Sr. Erlaucht vorgeworfen hĂ€tte, daĂ er fĂŒr seine Person das tue, was er
in der Ăffentlichkeit bekĂ€mpfe, so wĂŒrde Graf Leinsdorf es mit heiliger Ăberzeugung
als das demagogische Gerede von wieglerischen Elementen gebrandmarkt haben,
die von der ausgebreiteten Verantwortlichkeit des Lebens keine Ahnung besĂ€Ăen.
(MoE 99)
Aus Leinsdorfs Perspektive handelt es sich um eine Frage unterschiedlicher
gesellschaftlicher AnlÀsse, deren jeweilige Etiketten verschiedene Diskurse
verlangen. Symbolisch manifestiert sich diese im Romankontext indirekt als
405 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 48.
406 Auch hier erweist sich der Vordenker der Parallelaktion als PrÀfi
guration zentraler Charakteris-
tika des Austrofaschismus ; vgl. Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 316 : âVom Konzept
her sollten die BerufsstÀnde den Staat entlasten, den Bereich der gesellschaftlichen Selbstregu-
lierung âwirtschaftssachlichâ ausdehnen. So gesehen waren demokratische Strukturen durchaus
integrierbar. In Wahrheit jedoch setzte sich ĂŒberall das autoritĂ€re Prinzip durch, der Staat griff,
so gut er konnte, in allen Bereichen ein.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208