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471âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Der Begriff des Idealismus ist bei Musil generell dazu angetan, Misstrauen
zu wecken.409 Das bedeutet aber keineswegs, dass derjenige, dem er zuge-
schrieben wird, kein âmodernerâ Charakter sein kann. Im Gegenteil : Leins-
dorfs seltsam anmutende Kombination eines in pragmatischer Hinsicht âstets
und unter allen UmstĂ€nden sachlichen Denkensâ (MoE 101) mit dem öffent-
lich unbeirrten Festhalten an âewigen Wahrheitenâ und den âgroĂen Gedan-
ken und Idealen auf den Gebieten des Rechts, der Pflicht, des Sittlichen und
des Schönenâ weist auf einen hochmodernen, ideologisch Ă€uĂerst flexiblen
Konservativismus voraus410, der eher den gesellschaftlichen RealitÀten als
der verquasten Ideologieproduktion der portrÀtierten Epoche entspricht411
und in diesem aufgeschlossenen, vielseitigen und nicht zuletzt deshalb zu-
kunftstrÀchtigen SelbstverstÀndnis wohl erst die europÀische Nachkriegszeit
maĂgeblich geprĂ€gt hat.412 In Musils Roman besitzt der reichsunmittelbare
Graf aber schon vor 1914 die komfortable âauĂerordentliche FĂ€higkeit, zwei
Gedanken, die einander widersprechen konnten, mit glĂŒcklicher Hand so
auseinander zu halten, daĂ sie in seinem BewuĂtsein nie zusammentrafenâ
(MoE 234).
Bei aller Einsicht in die ZwÀnge ökonomischer Vernunft weià Leinsdorf
nÀmlich genau um die Bedeutung symbolischer und atmosphÀrischer Mo-
mente, was sich etwa in seinen politischen LeitsĂ€tzen zeigt : â[D]er Staat be-
steht nicht nur aus der Krone und dem Volk, dazwischen die Verwaltung, son-
dern es gibt in ihm auĂerdem noch eins : den Gedanken, die Moral, die Idee !â
(MoE 98 f.) Oder deutlicher noch : â[D]as Volk verlangt heute eine starke
409 â[J]eder irdische Idealismus hat den Zweck, die Begierden auf Höheres abzulenken und in
einer den Machthabern genehmen Weise zu entkrĂ€ften.â (MoE 1555) Vgl. auch den Essay Er-
innerung an eine Mode von 1912 (GW 8, 983), den Spengler-Essay Geist und Erfahrung von 1921
(GW 8, 1055) sowie ein Essayfragment aus den frĂŒhen zwanziger Jahren mit dem Arbeitstitel
Der Dichter und diese Zeit (GW 8, 1350 ; M IV/1/1). Mehr dazu im Abschnitt ĂŒber Diotima in
Kap. II.2.2.
410 Vgl. dagegen Blaschke : Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 316 : âDieses ideologi-
sche Amalgam wird vom ErzĂ€hler in einer ideologiekritischen Inszenierung der BrĂŒche darge-
stellt, die dem Literaturwissenschaftler allerdings keine eigene Arbeit der Ideologiekritik ĂŒbrig
lĂ€Ăt. Es ist alles getan. Leinsdorf wurde gewissermaĂen von Musil erledigtâ. Blaschkes Befund
impliziert, dass die Rekonstruktion einer schon im literarischen Text vorhandenen ideologie-
kritischen Tendenz keine lohnenswerte Aufgabe fĂŒr die Literaturwissenschaft sei. Wenn die
textimmanente Ideologiekritik aber integraler Bestandteil des analysierten ErzÀhlverfahrens ist,
ĂŒberzeugt dieser Einwand nur bedingt.
411 Vgl. Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 88.
412 Nur sehr allgemeine Hinweise in diese Richtung gibt Vierhaus : Konservativ, Konservatismus,
S. 531 u. 564 f. Ăhnliches gilt hinsichtlich Ăsterreichs fĂŒr BruckmĂŒller : Sozialgeschichte Ăster-
reichs, S. 433â436 ; Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 426â430 u. 460â464.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208