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473âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
zeit Ă€uĂerst beliebte Leitbild âunzersplitterte[n] Sein[s]â (MoE 101) im Sinne
einer ganzheitlichen Lebensauffassung. Der Graf orientiert sich dabei an der
normativen âberufsstĂ€ndischenâ âVorstellungâ eines jedem einzelnen Menschen
gleichsam als gottgegebene âEigenschaftlichkeitâ zugeteilten âAmtesâ :
Er vertrat die Auffassung, daĂ jede Leistung â nicht nur die eines Beamten, sondern
ebensogut die eines Fabrikarbeiters oder eines KonzertsĂ€ngers â ein Amt darstelle.
âJeder Menschâ pflegte er zu sagen âbesitzt ein Amt im Staate ; der Arbeiter, der FĂŒrst,
der Handwerker sind Beamte !â ; es war dies ein AusfluĂ seines [âŠ] sachlichen Den-
kens, das keine Protektion kannte, und in seinen Augen erfĂŒllten auch die Herrn und
Damen der obersten Gesellschaft, indem sie mit den Erforschern der Boghazkoitexte
oder der PlÀttchenfrage plauderten und sich die anwesenden Gattinnen der Hochfi-
nanz ansahen, ein wichtiges, wenn auch nicht genau zu umschreibendes Amt. Dieser
Begriff Amt ersetzte ihm das, was Diotima als die seit dem Mittelalter abhanden ge-
kommene religiöse Einheit des menschlichen Tuns bezeichnete. (MoE 101)
Wie Howald gezeigt hat417, greift Musil fĂŒr die als Zitat ausgewiesenen Worte
in diesem Passus auf sein Liechtenstein-Exzerpt aus der Neuen Freien Presse
zurĂŒck, dessen Formulierung er hier wörtlich ĂŒbernimmt und mit dem Ver-
merk versieht : âKönnte eine vorĂŒbergehende BerĂŒhrung mit einem Sozialis-
tenfĂŒhrer geben !â (Tb 1, 366) In dieser vielleicht ĂŒberraschend anmutenden
ideologischen Konstellation, die durchaus ein reales Vorbild in den sozialrefor-
merischen Bestrebungen Liechtensteins hat418, ist das spÀter in Musils nachge-
lassenen KapitelentwĂŒrfen dokumentierte Interesse Leinsdorfs an SchmeiĂer
vorgeprĂ€gt (vgl. MoE 1452 u. 1454). Ăhnlich wie in den grĂ€flichen AusfĂŒhrun-
gen zur âBeamtenschaftâ der verschiedenen StĂ€nde im Staat wird auch in Alois
Liechtensteins BroschĂŒre Ueber Interessenvertretung im Staate (2. Auflage 1877)
dessen Aufbau von den âauf sittlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen GrĂŒn-
den beruhenden Gliederungen des Volkesâ419 aus konzipiert, was zur Zeit der
Niederschrift des Romans dann in die stÀndestaatliche Ideologie des Austrofa-
schismus mit ihrem Konzept âberufsstĂ€ndischer Ordnungâ einflieĂen wird. Die
der Leinsdorf-Figur in den Mund gelegte konservative Spielart katholischer
Gesellschaftâ neben dem Adel identifiziert, die âgesellschaftlichen Vorrang und politische Mit-
bestimmung fĂŒr sich reklamierte.â
417 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 251 ; dazu Corino : Musil [1988],
S. 362.
418 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 853 ; zu den HintergrĂŒnden vgl. Fuchs : Geistige Strömungen in
Ăsterreich, S. 50â53.
419 Liechtenstein : Ăber Interessenvertretung im Staate, S. 43 f.; zit. nach Tb 2, 228, Anm. 98.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208