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474 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Staats- und Soziallehre hat also sowohl historische als auch zeitdiagnostische
Relevanz, weist deshalb aber gerade nicht auf das liberalistische Credo demo-
kratischer Selbstregulierung voraus, wie die systemtheoretische Musil-Deu-
tung Bergers suggeriert.420 Sie gemahnt in ihrer gesellschaftspolitischen Kon-
zeption vielmehr an rĂŒckwĂ€rtsgewandte Ordnungsutopien, wie sie Adalbert
Stifter siebzig Jahre vor Musil im Nachsommer literarisch verewigt hat.
Von Stifters zumindest vorderhand klassizistischer Ethik und Kunstreli-
gion unterscheidet sich Leinsdorf freilich durch den anderen Stellenwert,
den die Kunst bei ihm einnimmt : So nennt er zwar durchaus bedeutende
Kunstwerke sein eigen, ist aber nicht im engeren VerstÀndnis kunstsinnig,
sondern verspĂŒrt in erster Linie âFreude an einer RaritĂ€tâ ; Musils ErzĂ€hler
erwĂ€hnt etwa hintersinnig, dass âGraf Leinsdorf den Besitz der viel seltene-
ren quergestreiften Sahara mit Wasserzeichen und einem fehlenden Zahn
höher gestellt hĂ€tte als den eines Greco, [âŠ] wenngleich er beide besaĂ
und die berĂŒhmte Bildersammlung seines Hauses nicht ganz auĂer acht lieĂâ
(MoE 88). Besonders abfĂ€llig Ă€uĂert sich der Aristokrat, der auch âder Li-
teratur kein Gewichtâ beimisst (MoE 514), gegenĂŒber dem, was er âNur-
Literaturâ nennt : âEs war das eine Vorstellung, die sich fĂŒr ihn mit Juden,
Zeitungen, sensationssĂŒchtigen BuchhĂ€ndlern und dem liberalen, ohnmĂ€ch-
tig schwĂ€tzenden, fĂŒr Geld produzierenden Geist des BĂŒrgertums verband,
und das Wort Nur-Literatur war geradezu ein neuer Ausdruck von ihm ge-
worden.â (MoE 322) Musil selbst hat in seinem Essay BĂŒcher und Literatur
(Oktober 1926) einige Ăberlegungen zur (spĂ€ter der Romanfigur Leinsdorf
in den Mund gelegten) ablehnenden Haltung gegenĂŒber âNur-Literaturâ an-
gestellt : âWĂ€hrend frĂŒhere Zeiten Worte wie Federfuchser, Kritikaster zur
Abwehr bestimmter AuswĂŒchse der Literatur hervorgebracht haben, ist
heute das Wort Literat selbst zum Schimpfwort geworden. Nur Literatur
bezeichnet so etwas wie Mottenseelen, die um kĂŒnstliche Lichter flattern,
wĂ€hrend drauĂen der Tag scheint.â (GW 8, 1164) Die nicht allein antimo-
derne, sondern zudem antiintellektuelle, ja latent kunstfeindliche Einstellung
Leinsdorfs hebt sich im Romanzusammenhang augenfÀllig von den diesbe-
zĂŒglichen Ansichten Ulrichs, Walters, aber auch Arnheims ab und Ă€hnelt in-
420 Vgl. Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 317 : âDas harmonische Bild des âStĂ€nde-
staatesâ sollte sich von der konfliktbewegten Parteiendemokratie deutlich abheben.â Verquer
scheint nicht zuletzt deshalb die Identifizierung von Liechtensteins bzw. Leinsdorfs Lehre
eines jedem Menschen gleichsam von der unabÀnderlichen Ordnung des Seins verliehenen,
angeborenen âAmtesâ mit der modernen bĂŒrgerlichen Leistungsethik, wie sie Berger : Musil mit
Luhmann, S. 150, aus systemtheoretischem Systemzwang und in Verkennung der hier verhan-
delten historischen Semantik vornimmt.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208