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477âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
tifikatorischer auf funktionale Differenzierung wird es nötig, die mitlaufende
Fremdreferenz durch mitlaufende Selbstreferenz zu ersetzen, weil die neue
Differenzierungstypik die hierarchische Weltordnung sprengt und die Funk-
tionssysteme autonom setzt.â430 Inwiefern aber der mehrfach angedeutete
âallmĂ€hlicheâ Ăbergang als zeitlicher Prozess zu relativ dauerhaften Misch-
formen funktionaler und stratifikatorischer Differenzierung fĂŒhrt, bleibt bei
Luhmann im Dunkeln. Dabei rÀcht sich, dass die Systemtheorie die feinere
Unterscheidung zwischen personaler und struktureller Herrschaft431 nicht (aner-)
kennt, sondern (aus hier nicht zu diskutierenden GrĂŒnden) mit der histori-
schen Ablöse Ersterer gleich jede Vorstellung von Herrschaft verabschiedet.
TatsĂ€chlich sind im Mann ohne Eigenschaften aber â wie auch in der ârealenâ
Welt der Moderne432 â funktionale und stratifikatorische Differenzierungsty-
pen hÀufig gleichzeitig und in trauter Eintracht zu beobachten, ohne dass hier
die idealtypische Unterscheidung von âprimĂ€renâ und âsekundĂ€renâ Faktoren
kategoriell ĂŒberhaupt sinnvoll erschiene. Von einer âErsetzungâ der âhierar-
chischen Weltordnungâ kann keine Rede sein, allenfalls von deren partieller
Erosion, die aber keineswegs in eine finale Auflösung mĂŒndet, eher in eine Art
âneuer UnĂŒbersichtlichkeitâ.433 Die sozialen und diskursiven VorgĂ€nge in Mu-
sils Romankosmos sind nicht nur komplexer als viele Beschreibungsmodelle
der damaligen Soziologie434, sondern sprengen auch manche Konzepte der
derzeit gÀngigen.
Leinsdorf passt seinen Adelstitel einmal der modernen ökonomischen Re-
alitÀt an, ein anderes Mal jedoch umgekehrt die ökonomische RealitÀt dem
adeligen Titel, wobei stets das Bestreben vorherrscht, die ererbte dominante
Position zu erhalten. Diese Strategie wird ermöglicht durch den von Bourdieu
und Luc Boltanski beschriebenen âSpielraum zwischen dem, was dem Namen
nach, und dem, was wirklich istâ (im Sinne sozialwissenschaftlicher Objekti-
vierbarkeit) ; die âGröĂeâ dieses Spielraums âschwankt je nach Epoche bzw.
Bereich in ein und derselben Gesellschaftsformation. Und im Kampf um die
Klassifizierung geht es um diese Differenz, insofern die dabei jeweils verfolg-
ten Strategien darauf abzielen, das nominell Gegebene an die RealitÀt oder die
430 Ebd., S. 624 f.
431 Vgl. Bourdieu/Boltanski/de Saint Martin : Kapital und Bildungskapital, S. 38â42.
432 Mehr dazu in Joch/Wolf : Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 10â12.
433 Vgl. Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 231 : âGegenĂŒber jenen Deutungen
[âŠ], die [âŠ] in Ulrich den âPrototyp des modernen Menschenâ [âŠ] erblicken [âŠ], gilt es mit
Nachdruck auf die fĂŒr den MoE so ĂŒberaus charakteristische Amalgamierung des Modernen
mit dem Vormodernen zu beharren.â
434 Vgl. ebd., S. 225.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208