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493âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
um einiges Ă€lter als seine Gattin Diotima â und damit auch als Ulrich â ist
(vgl. MoE 104), was zu seiner fortgeschrittenen Karriere passt. Wiederholt er-
wĂ€hnt der ErzĂ€hler âdas gedörrte Aussehen des knapp mittelgroĂen Mannesâ
(MoE 413), schwĂ€rmt fast von dessen âBĂ€rtchenâ, âglĂ€nzenden Augenâ sowie
âschlanken, braunhĂ€utigen Fingernâ (MoE 415) und betont âdie gut sitzende
Ruhe seiner Handlungen und seines Anzugsâ, den âhöflich ernste[n] Geruch
seines Körpers und Bartesâ (MoE 104), die ein âscharf-zartes Aromaâ aus-
strahlen (MoE 414), besonders aber den âvorsichtig feste[n] Bariton, in dem
er sprachâ ; das alles habe ihn gleichsam âmit einem Hauchâ umgeben (MoE
104). Dass man sich Letzteres allerdings nicht allzu romantisch-zart vorzu-
stellen hat, zeigt folgende entscheidende Information ĂŒber den Tuzziâschen
Habitus : â[V]on der Zeit der BrĂ€utigamszĂ€rtlichkeiten abgesehn, war Sekti-
onschef Tuzzi immer ein NĂŒtzlichkeits- und Verstandesmensch gewesen, den
sein Gleichgewicht niemals verlieĂ.â (MoE 104) Es handelt sich mithin um
einen sehr rational denkenden Angehörigen des arrivierten BĂŒrgertums, des-
sen herausgehobene soziale Stellung ihn gleichwohl habituell dem Hochadel
annÀhert :
Er war in einem Ministerium, das als Ministerium des ĂuĂern und des Kaiserlichen
Hauses noch viel feudaler war als die anderen RegierungsbĂŒros, der einzige bĂŒrger-
liche Beamte in maĂgebender Stellung, leitete darin die einfluĂreichste Sektion, galt
als die rechte Hand, gerĂŒchtweise sogar als der Kopf seiner Minister und gehörte zu
den wenigen MĂ€nnern, die auf die Geschicke Europas EinfluĂ hatten. Wenn aber in
so stolzer Umgebung ein BĂŒrgerlicher zu solcher Stellung aufsteigt, darf man fĂŒglich
einen Schluà auf Eigenschaften ziehen, die in einer vorteilhaften Weise persönliche
Unentbehrlichkeit mit bescheidenem ZurĂŒcktretenkönnen vereinen mĂŒssen [âŠ].
(MoE 92)
Auch diese romaneske Konstruktion Musils widerspricht den historisch veri-
fizierbaren Daten keineswegs, sondern orientiert sich ganz offensichtlich an
ihnen.484 Anschaulicher aber, als es die damaligen Sozialwissenschaften ver-
mochten485, berichtet der ErzĂ€hler als Vorgeschichte seines Berichts ĂŒber die
484 Vgl. Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 89 : âEine unbestritten adelige DomĂ€ne blieb
die hohe Politik, das Ministerium des ĂuĂeren und der diplomatische Dienst. Unter den Bot-
schaftern und Gesandten gab es 1908 keinen einzigen Nichtadeligen ; allerdings nahm das bĂŒr-
gerliche Element langsam zu, vor allem durch den Konsulardienst.â
485 Mehr dazu in Kap. III.1.1. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 297, kon-
zediert Musils Roman, dass Tuzzis âWerdegang wie seine aktuelle Stellung sozial relativ prĂ€zise
herausgearbeitetâ werden â und stellt die Figurenzeichnung damit der in soziologischer Hin-
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208