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497âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Aus dieser Beobachtung spricht immerhin ein â wenngleich verschĂŒttetes â
Potenzial im Sinne des Musilâschen Essayismus, das dem Realpolitiker â wie
allen Menschen â zumindest in jungen Jahren eigen war.493 Wie Howald je-
doch richtig einschrĂ€nkt, hat sich dessen âAbsperrungâ aber schon âin Tuzzis
Jugend vollzogen. In der Folge hat sich seine Libido ĂŒberwiegend in seinem
Beruf verĂ€ussertâ494, wĂ€hrend er âdie unendliche Landschaft der Liebeâ im
institutionellen Rahmen seiner Ehe mit einer hochrationellen Zeitökonomie
ânur einmal in jeder Wocheâ bestellt :
Sektionschef Tuzzi bevorzugte darin die geraden Wege. Seine Lebensgewohnheiten
waren die eines ehrgeizigen Arbeiters. Er stand frĂŒh am Morgen auf, um entweder
auszureiten oder, noch lieber, eine Stunde spazierenzugehn, was nicht nur der Erhal-
tung der ElastizitÀt diente, sondern auch eine pedantisch einfache Gewohnheit dar-
stellte, die, unerschĂŒtterlich durchgefĂŒhrt, vorzĂŒglich zum Bild verantwortungsvoller
Leistungen paĂt. Und daĂ er abends, wenn sie nicht eingeladen waren oder GĂ€ste
hatten, sich alsbald in sein Arbeitszimmer zurĂŒckzog, versteht sich von selbst, denn
er war gezwungen, sein groĂes sachliches Wissen auf jener Höhe zu halten, in der
seine Ăberlegenheit ĂŒber die adeligen Kollegen und Vorgesetzten bestand. Ein sol-
ches Leben setzt feste Schranken und ordnet die Liebe der ĂŒbrigen TĂ€tigkeit ein. Wie
alle MĂ€nner, deren Phantasie nicht vom Erotischen versehrt wird, war Tuzzi in seiner
Junggesellenzeit â wenn er sich auch hie und da des diplomatischen Rufes halber
in Gesellschaft seiner Freunde mit kleinen Theaterchoristinnen gezeigt hatte â ein
ruhiger Bordellbesucher gewesen und ĂŒbertrug den regelmĂ€Ăigen Atemzug dieser
Gewohnheit auch in die Ehe. (MoE 104 f.)
Der regelmĂ€Ăige Besuch von Prostituierten wird in Romanen der klassi-
schen Moderne nicht von ungefÀhr (und meist ohne besonderes Aufheben)
als gebrÀuchliche Praxis mÀnnlicher Figuren erwÀhnt, die ihnen im Sinn
einer rationellen Liebesökonomie bzw. Triebableitung erlaubt, ihre gesell-
schaftliche Rolle bzw. âEigenschaftâ ohne störende affektive Irritationen aus-
zufĂŒllen.495 Eine habituelle Voraussetzung fĂŒr diesen nĂŒchternen Usus ist
493 Zum âKnabenmotivâ bei Tuzzi vgl. Reinhardt : Studien zur Antinomie von Intellekt und Ge-
fĂŒhl, S. 67â69.
494 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 300.
495 So heiĂt es selbst in Kafkas ProceĂ, wo manche es vielleicht am wenigsten vermuten wĂŒrden,
kaum verklausuliert und recht nĂŒchtern, dass âK. einmal in der Woche zu einem MĂ€dchen
namens Elsa [gieng], die wÀhrend der Nacht bis in den spÀten Morgen als Kellnerin in einer
Weinstube bediente und wĂ€hrend des Tages nur vom Bett aus Besuche empfieng.â Kafka : Der
ProceĂ, S. 30 ; vgl. auch S. 336 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208