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498 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
ein ausgeprĂ€gter âWirklichkeitssinnâ, der sich angesichts akuter körperlicher
BedĂŒrfnisse mit den vagen PotenzialitĂ€ten eines auch emotional erfĂŒllten
und erfĂŒllenden Liebeslebens aufzuhalten nicht bereit ist. Die damals ins-
besondere unter jungen MĂ€nnern ĂŒbliche Praxis âdes gemeinsamen Bor-
dellbesuchs, der bĂŒrgerlichen Jugendlichen so lebhaft in Erinnerung bleibtâ
â eine âhandfestereâ Variante der von Musils ErzĂ€hler erwĂ€hnten feuchtfröh-
lichen Abende, die der Junggeselle Tuzzi und seine Freunde âmit kleinen
Theaterchoristinnenâ verbracht haben â, erfĂŒllt als âMĂ€nnlichkeitsprĂŒfungâ
unter anderem âden Zweck, daĂ diejenigen, die auf die Probe gestellt wer-
den, ihre MÀnnlichkeit in ihrer wahren Gestalt, der aller entmÀnnlichten
ZĂ€rtlichkeit und RĂŒhrung der Liebe baren GewalttĂ€tigkeit vor den anderen
beweisenâ.496 Bei Tuzzi freilich sind solche exzeptionellen, emotional aufge-
ladenen Erlebnisse, wenn er sie denn jemals zur Aufpolierung seines âRufesâ
betrieben hat, lÀngst einer ruhigen, usuellen Praktik gewichen.
Wie Howald zu Recht hervorgehoben hat, tritt der Sektionschef Tuzzi
auch in anderer Hinsicht âsowohl strukturell, d. h. in der HandlungsfĂŒhrung,
wie auch intellektuell als Opponent gegen die schöngeistigen BemĂŒhungen
der Parallelaktion auf. Diese scheint ihm vorerst bloss eine BeschÀftigungsthe-
rapie seiner Frau zu sein.â497 In auffallender Abweichung von seinem dichten-
den biografischen Modell Hermann Schwarzwald498 schÀtzt Musils Diplomat
Kunst und Kultur offenbar ĂŒberhaupt als âunmĂ€nnlicheâ, genuin weibliche Be-
tĂ€tigungsfelder ein. Jedenfalls wird Tuzzi trotz seiner ĂŒberdurchschnittlichen
Bildung als vollkommen unkĂŒnstlerische und unliterarische Figur gezeichnet :
Er liest âvon schöngeistigen BĂŒchern, auĂer Memoirenwerken, nur die Bibel,
Homer und Roseggerâ499 und hĂ€lt sich auf diese intellektuelle BeschrĂ€nktheit
sogar noch âetwas zuguteâ, weil sie âihn vor Zersplitterungâ bewahre (MoE
208 ; vgl. MoE 197) â so seine charakteristische BegrĂŒndung im Sinn der zeit-
genössischen Ganzheitsideologie. An anderer Stelle weist der ErzÀhler aus-
drĂŒcklich darauf hin, dass der Sektionschef zwar durchaus âliterarisch gebil-
detâ ist, aber âwie alle Diplomatenâ leichtverdauliche und handlungspraktisch
496 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 95.
497 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 298 f.
498 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 865 f.
499 Schon in seinen frĂŒhesten Notizen zu Tuzzi verzeichnet Musil diesen fĂŒr einen gebildeten
Menschen eigenartig schmalen LektĂŒrekanon, erwĂ€gt aber noch Varianten : âLiest nur Ho-
mer und die Bibel. Oder Reuter und die Bibel.â (M I/6/19 ; vgl. Tb 1, 380) Fritz Reuter wird
demnach erst spÀter durch den steirischen Provinzschriftsteller Peter Rosegger ersetzt, dessen
LektĂŒre einem hohen kakanischen Ministerialbeamten wohl nĂ€her liegt als jene des nieder-
deutschen Volksdichters.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208