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500 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
tisch denkende und im praktischen Leben âvormĂ€rzlich gesinnte[ ]â (MoE 416)
Sektionschef fĂŒr ein Ende der im doppelten Wortsinn âzwecklosenâ kritischen
Reflexion. Tuzzi erweist sich damit im Romankosmos des Mann ohne Eigen-
schaften als reinste Verkörperung eines Antiessayismus, der dem menschlichen
âMöglichkeitssinnâ grundsĂ€tzlich jenes produktive Potenzial abspricht, das ihm
Musils ErzÀhler ja an prominentester Stelle zugebilligt hat.501 Zugleich ist er als
politischer FunktionĂ€r an der Spitze der kakanischen Diplomatie âein Mann
mit vielen und doch : ohne Eigenschaftenâ, wie Corino treffend formuliert.502
Tuzzis streng zweckrationale Haltung, die sich in ihrem diplomatischen Kal-
kĂŒl allein der herrschenden Macht verpflichtet weiĂ, Ă€uĂert sich etwa in sei-
ner gemeinsam mit Stumm von Bordwehr ins Werk gesetzten Entmachtung
Leinsdorfs bzw. in dessen VerdrĂ€ngung âvon der Spitzeâ der Parallelaktion
(MoE 1121 ; vgl. MoE 1154 f.), die Musil in den Druckfahnenkapiteln mehr
andeutet als ausfĂŒhrt. Gegen Ende des geplanten romanesken Handlungsver-
laufs ĂŒbernehmen das Ministerium des ĂuĂeren und das Kriegsministerium in
einer konzertierten Aktion handstreichartig das patriotische Komitee zur Vor-
bereitung des kaiserlichen RegierungsjubilÀums und verwandeln dieses in eine
militÀrisch-staatliche Machtdemonstration. Exemplifiziert wird damit Tuzzis
von ihm selbst verworfene und dennoch handlungsleitende Anthropologie Ă
la baisse. In der âSchluĂ-Sitzungâ der Parallelaktion sollte er gegen alle bisher
geĂ€uĂerten politischen Einsichten in die Gebotenheit einer Abwendung Ka-
kaniens von der alleinigen Bindung ans Deutsche Reich als friedenserhaltende
MaĂnahme (vgl. MoE 808) nun angesichts der Mobilisierung so triumphierend
wie widersinnig503 verkĂŒnden : âNun siegt die Vernunft.â (MoE 1932) Darauf
folgt der auktoriale Kommentar : âVernunft gehört in den Bereich des Bösen.
Moral und Vernunft sind die GegensĂ€tze der GĂŒte.â (MoE 1932) Musil greift
damit das frĂŒhere einschlĂ€gige GesprĂ€ch zwischen dem Sektionschef und dem
âVetterâ seiner Frau (vgl. MoE 410â418) wieder auf und erwĂ€gt hinsichtlich
der zuletzt zitierten SĂ€tze : âDas könnte, hinzugetreten, eventuell auch Ulrich
sagen.â (MoE 1932) Das radikal antiutopische Prinzip nĂŒchterner Realpolitik
erscheint solcherart einmal mehr als Gegenbild der âUtopie des Essayismusâ,
ohne diese deshalb auch als dichterische Idee zu widerlegen.504 Im Gegenteil,
501 Vgl. Kap. I.3.1.
502 So Corino : Musil [2003], S. 866, zum biografischen Modell Hermann Schwarzwald.
503 Vgl. dazu Fanta : Die Totalinversion der Nebenfiguren, S. 246 : âWenn Tuzzi am Ende die aus-
gebrochene Begeisterung fĂŒr einen Krieg gemeinsam mit dem Deutschen Reich gegen die
Entente fĂŒr vernĂŒnftig erklĂ€rt, kommt dies dem völligen Bankrott seines politischen Credos
gleich.â
504 Vgl. dagegen die kritische EinschĂ€tzung von Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideolo-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208