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502 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Verwertbarkeit angelegt ist ; er lautet : âFranzösische Witze, ein bischen [sic]
unanstÀndig. Schiefe, einschmeichelnde Haltung, etwas zu langes Sakko. Singt
mit einem angenehmen Bariton sehr melancholisch. Diese Musikentladun-
gen des GemĂŒts ermöglichen solchen Menschen, so menschlich dumm zu
bleiben, wie sie sind.â (Tb 1, 373) Zumindest die in der Vorliebe fĂŒr (seinerzeit
im deutschsprachigen Raum als unanstÀndig verschriene) französische Witze
durchscheinende urbane LiberalitÀt weist schon auf die erst spÀter entworfene
Figur Leo Fischel voraus.
Konkreter in diese Richtung deutet eine etwas spÀter unter dem Stichwort
âBankdirektorâ erfolgte Eintragung ins Arbeitsheft 8, die betont : âWas muĂ so
ein Mensch tun, um es so weit zu bringen. Welchen FleiĂ, FĂŒgsamkeit, Augen-
aufschlĂ€ge !â (Tb 1, 395) In diesem Zusammenhang merkt Musil hinsichtlich
der habituellen Voraussetzungen beruflichen Aufstiegs zur partiellen Homolo-
gie zwischen Ministerialrat und Banker an (Corino zufolge verfÀhrt er mangels
âintimerer Kenntnis eines wirklichen Bankdirektorsâ nur âper analogiamâ509) :
âBĂŒrokratie und Bank sind hierin wohl gleichâ (Tb 1, 395).510 Die ausdrĂŒcklich
schon auf das Romankonzept bezogene entstehungsgeschichtliche Herausbil-
dung der Figur Leo Fischels hat Howald knapp nachgezeichnet511 : so dessen
erste ErwĂ€hnung in einer Figurenaufstellung fĂŒr das Spion-Projekt (Tb 2, 1068 ;
vgl. Tb 1, 578 f.512 u. Tb 2, 80, Anm. 1513) und weitere, nun schon thematisch
angereicherte Nennungen in den Notizen aus der Erlöser-Phase (MoE 2007 u.
2014 f.). Die bis 1929 unter dem neutraleren bzw. weniger âjĂŒdischâ konnotier-
ten Namen Fischer firmierende Figur des âgetauften Abteilungsleiters in der X-
Bankâ (M VII/3/3) wird in der zweiten HĂ€lfte der zwanziger Jahre514 von Musil
509 Corino : Musil [2003], S. 893.
510 In unmittelbarer Folge gibt Musil ein anschauliches Beispiel fĂŒr die karrierefördernde âFĂŒg-
samkeitâ aufsteigewilliger Beamter und Bankiers : âSektionsrat Re[i]chle [âŠ] durfte als junger
Beamter beim Aufenthalt in Prag nicht in die tschechische Oper gehn, weil der Sektionschef,
dem er beigegeben war, das nicht passend fand. Er wollte die Verkaufte Braut hören, schĂŒtzt
Unwohlsein vor, um sich dem gemeinsamen Spaziergang nach Tisch zu entziehn, sagt, viel-
leicht könne er aber schon um 5h im CafĂ© sein, und stĂŒrzt ins Theater. Im CafĂ© nachher steifer
Empfang. Ich weiĂ, wo Sie waren ; ich war auf Ihrem Zimmer ; ihr Feldstecher war nicht da ;
und daran schlieĂend ein âTeeâ. Einige Zeit spĂ€ter Einladung mit dem Chef ins deutsche Thea-
ter zu gehn, will Billett lösen, ist schon geschehn, Loge und auf seinem Platz liegt sein Feldste-
cher, den der Chef wieder aus dem Zimmer geholt und hingelegt hat. Wie merkwĂŒrdig beide
Figuren ! Der sich das gefallen lĂ€Ăt und der so ist und so wieder gut macht.â (Tb 1, 395)
511 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 314 ; daneben Fanta : Die Entste-
hungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 235 f.
512 Nachtrag zum Arbeitsheft 21.
513 Undatiertes Beilagenblatt zum Arbeitsheft 11.
514 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 314.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208