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503âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
dann explizit als Vertreter des assimilierten Judentums konzipiert und durch die
komplementÀre Zuspitzung von Hans Sepps Antisemitismus zu einem Gegen-
satzpaar ergĂ€nzt : âVon den aktuellen Zeitereignissen ĂŒber die Bedeutung des
Antisemitismus belehrt, bringt Musil dieses PhÀnomen unmittelbar in der Per-
sonenkonstellation zur Austragung.â515 Die Entscheidung, den liberalen Bank-
prokuristen mit einer jĂŒdischen Herkunft auszustatten, ist insofern plausibel, als
das um 1900 mit 200 000 Mitgliedern zur âgröĂten jĂŒdischen Gemeinde Euro-
pasâ angewachsene Wiener Judentum516 einen maĂgeblichen Teil, ja geradezu
den âKern des âliberalen BildungsbĂŒrgertumsâ von Wien 1900â ausmachte.517
Der kanonische Romantext prÀsentiert Leo Fischel als Sohn eines offenbar
selbst bereits assimilierten Juden, âder Rechtsanwalt in Triest gewesen warâ
(MoE 479). Zu Beginn der BasiserzĂ€hlung ist er â in deutlicher Abweichung
von den Daten des (angeblichen) biografischen Modells Wolfgang Theodor
Reichle â gut 50 Jahre alt.518 Die individuelle fiktionale Familiengeschichte
verkörpert mithin auf idealtypische Weise den sozialen Aufstieg des österrei-
chischen Judentums, dessen Generationenfolge hÀufig von der lÀndlichen Pe-
ripherie ĂŒber ProvinzhauptstĂ€dte ins politische, wirtschaftliche und kulturelle
Zentrum Wien fĂŒhrte.519 Beruflich ist âDirektor Leo Fischel von der Lloyd-
Bankâ allerdings ânur Prokurist mit dem Titel Direktorâ (MoE 133) bzw. bloĂ
âein Abteilungsleiterâ (MoE 136), was auch fĂŒr sein privates Leben ein keines-
wegs unerheblicher und folgenloser Sachverhalt ist und noch zu diskutieren
sein wird. Fischel, dessen âgesunder GeschĂ€ftssinn vaterlĂ€ndischen Aktionen,
die von hohen Kreisen ausgingen, abhold warâ (MoE 133), figuriert als Vertre-
ter eines pragmatischen ökonomischen Rationalismus. Seine âgenerative For-
melâ orientiert sich am österreichischen GrĂŒnderzeitliberalismus, der seiner
Familie und ihm selbst die ersehnte Assimilation ermöglicht hat.520 DarĂŒber
515 Ebd.
516 Holmes/Silverman : Zwischenraum, Zwischenzeit, S. 32. Zur beeindruckenden quantitativen
und qualitativen Entwicklung der jĂŒdischen Population Wiens vgl. auch Pollak : Wien 1900,
S. 109 f.; Hamann : Hitlers Wien, S. 468 f.
517 So Beller : Was nicht im Baedeker steht, S. 5, unter Verweis auf ders.: Wien und die Juden,
S. 42â81.
518 Vgl. M II/1/97 sowie vor allem Fischels Aussage im nachgelassenen Kapitel âGerdas RĂŒck-
kehrâ aus den Kapitelgruppen-EntwĂŒrfen der spĂ€ten zwanziger Jahre : âIch bin 7 Jahre alt ge-
wesen, wie wir den Krieg gegen Preussen [1866] hatten.â (MoE 1623) Diese Information, der
zufolge Fischel zu Beginn der BasiserzÀhlung 54 Jahre alt wÀre, steht freilich unter dem Vorbe-
halt, dass sie aus dem apokryphen Romantext stammt.
519 Vgl. etwa Zweig : Die Welt von Gestern, S. 19.
520 Vgl. Schnitzler : Jugend in Wien, S. 77, zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts : âDamals,
es war in der SpĂ€tblĂŒtezeit des Liberalismus, existierte der Antisemitismus zwar, wie seit jeher,
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208