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508 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
und Interesse bringt er indes fĂŒr die andere Seite des Liberalismus auf, wie
sich in seiner relativ nĂŒchternen Haltung gegenĂŒber der bĂŒrgerlich-liberalen
Kultur offenbart : Das auf ânur zehn Minuten tĂ€glichâ (MoE 204) beschrĂ€nkte
Philosophieren, das man in einen Gegensatz zu Ulrichs âDauerreflexionâ
gebracht hat534, zeugt von einem provokant leidenschaftslosen Umgang mit
geistigen Fragen, der charakteristisch fĂŒr den Angehörigen der ersten Gene-
ration nach der religiös-kulturellen Assimilation und dem sozialen Aufstieg
ist. Fischels vergleichsweise geringes Interesse fĂŒr Kunst und Kultur wird von
Musil freilich schon 1920 durch einen relativierenden Hinweis im Arbeitsheft
8 legitimiert :
Um eine Vorstellung zu gewinnen, wie er auĂerhalb des GeschĂ€fts ist und speziell
Kunst, Philosphie usw. gegenĂŒber, fragen : Wie bin ich, wenn ich nicht arbeite ? Wie
gleichgĂŒltig ist mir Kunst und Philosophie, wenn sie nicht in Beziehung zu meiner
Arbeit stehn. AuĂer Musik, die derb anpackt. Und hie und da ein Buch, das sich mit
einem zufĂ€llig persönlichen Problem berĂŒhrt. Alles andere geht nur durch das Me-
dium : man spricht davon, Gesellschaft. (Tb 1, 394)
Musil bestÀtigt hier den meist kunstfernen, weil identifikatorischen Charakter
seiner eigenen LektĂŒre, wenn es um Fragen geht, die sein berufliches Interesse
an Kunst und Philosophie nicht tangieren. Leo Fischels rein instrumentell wir-
kendes VerhÀltnis zu Kunst und Kultur scheint dadurch in gewisser Weise sal-
viert. Folgenreich ist es dennoch, und zwar insofern, als es in seinem engsten
Familienkreis den Boden fĂŒr die salbaderischen AktivitĂ€ten der Gruppe um
Hans Sepp bereitet, wie Musil bereits in seiner frĂŒhen Notiz treffend bemerkt :
âDaher die Chance marktschreierischer Kunstaufmachung, Explosivismus der
Jugend.â (Tb 1, 394) Mit solchen lapidaren Worten bezeichnet er die enorme
Energie und Kraft, die ein(e) Angehörige(r) der nachwachsenden Generation
aus generationellem Distinktionsstreben gegenĂŒber dem inhaltsleer erschei-
nenden (hier : liberalen) KulturverstĂ€ndnis der eigenen VĂ€ter (und MĂŒtter)
beziehen kann.
Genau unter diesem DistinktionsbedĂŒrfnis der nachfolgenden Generation
wird Leo Fischel besonders leiden mĂŒssen, hat er doch einen âausgeprĂ€g-
ten Familiensinnâ (MoE 207)535, wodurch ihm die heillose ZerrĂŒttung seiner
534 So Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 237.
535 Vgl. Magris : Arnheim und Papa Fischel, S. 147 : âIm Gegensatz zu fast allen anderen Gestalten
im Mann ohne Eigenschaften ist Leo Fischel ein Vater, und seine â physische wie moralische
â Vaterschaft bildet einen Kontrast zur Unfruchtbarkeit, von der die ganze Musilsche Welt
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208