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509âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Ehe536 und die damit zusammenhÀngenden unerquicklichen VerhÀltnisse in
seinem konfliktreichen Haus sehr nahegehen : â[E]r war [âŠ] ein unverbesser-
licher Familienmensch und wĂŒrde alles darum gegeben haben, wenn er bloĂ
den Höllenkreis daheim in einen um Gottvater-Titulardirektor schwebenden
Kreis von Engeln hĂ€tte verwandeln können.â (MoE 481) Dazu kommt es aber
nicht, denn charakterlich zeichnet sich der rationell denkende Liberale zu sei-
nem UnglĂŒck durch groĂe Sturheit und Rechthaberei aus : Wie der ErzĂ€hler
berichtet, ist Fischel âgar nicht der Mann, der sich hĂ€tte verbessern lassenâ
(MoE 204). Die zermĂŒrbenden Familienkonflikte duldet er ânicht schweigend,
denn das lag nicht in seiner Naturâ (MoE 206). Besonders quĂ€lt den assimilier-
ten Juden die seit 1880 und mehr noch nach 1900 spĂŒrbare Konjunktur537 von
âRassentheorien und StraĂenschlagworte[n]â (MoE 204). Sogar im eigenen
Haus sieht er sich durch die Treffen des âchristgermanischen Kreisesâ um Ger-
das Lehrer und Verehrer Hans Sepp stĂ€ndig âWorte[n] und GrundsĂ€tze[n]â
ausgeliefert, die ihm gehörig âauf die Nervenâ fallen (MoE 478). Der ErzĂ€hler
gibt ein paar charakteristische Kostproben dieses Sounds, wofĂŒr Musil sich aus
einer einschlĂ€gigen Quellensammlung bedient, die er schon frĂŒh in seinem
Arbeitsheft 8 (1920) zusammengestellt hat (vgl. Tb 1, 397 ; Tb 2, 252â254) :
[D]ie Worte hochbedeutsam, Empormenschlichung und freie Menschbarkeit mach-
ten allein schon den Zwicker auf Fischels Nase erzittern, jedesmal wenn er sie hörte.
In seinem Hause wuchsen Begriffe wie Lebensdenkkunst, geistiges Wuchsbild und
Tatschwebung. Er kam darauf, daĂ alle vierzehn Tage bei ihm eine âLĂ€uterungs-
stundeâ abgehalten wurde. Er drang auf AufklĂ€rung. Es stellte sich heraus, daĂ dabei
gemeinsam Stefan George gelesen wurde. Leo Fischel suchte vergeblich in seinem
alten Konversationslexikon, wer das sei. Was ihn, den alten Liberalen, aber am mei-
sten Ă€rgerte, war, daĂ diese GrĂŒnschnĂ€bel, wenn sie von der Parallelaktion sprachen,
alle beteiligten Ministerialreferenten, BankprĂ€sidenten und Gelehrten âaufgestutzte
Menschleinâ nannten ; daĂ sie blasiert behaupteten, es gebe heutzutage keine groĂen
Ideen mehr oder es sei niemand mehr da, der sie verstĂŒnde ; daĂ sie sogar die Huma-
nitĂ€t fĂŒr eine Phrase erklĂ€rten und nur noch die Nation oder, wie sie es nannten, das
Volkstum und Brauchtum fĂŒr etwas Wirkliches gelten lieĂen. (MoE 478 f.)
gezeichnet ist.â Ja, Fischel sei âein echter Vater, dessen Vaterschaft auf Liebessubstanz beruht,
nicht der Vater als PĂ€dagoge und Haustyrann, wie er in der Figur Lindners karikiert wirdâ.
Mehr noch : âIn Leo Fischel scheint hinter der melancholischen Fassade des Bankdirektors der
ostjĂŒdische pater familias auf. Seine Vaterschaft erwĂ€chst ihm aus ĂŒberliefertem Familienkult,
der im jĂŒdischen Bereich zu absoluter Geltung erhoben worden war.â
536 Vgl. dazu den einschlÀgigen Abschnitt in Kap. II.3.1.
537 Vgl. HĂ€usler : Stereotypen des Hasses, S. 27 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208