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515âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Es war zum Staunen, wie viel Klementine und auch Gerda â die ansonsten den WĂŒn-
schen ihrer Mutter natĂŒrlich widersprach â von diesem Manne in Erfahrung gebracht
hatten, und da man auch auf der Börse mancherlei Verwunderliches von ihm redete,
so fĂŒhlte sich Fischel in die Verteidigung gedrĂ€ngt, denn er konnte einfach nicht mit
[âŠ]. (MoE 207 f.)
WĂ€hrend der in der Defensive befindliche Leo versucht, den von der Paral-
lelaktion ausgehenden irrationalen Zauber durch ErwÀgungen inhaltlicher Art
oder durch pure Ironie zu brechen, verwahrt sich die auf ihren gesellschaftli-
chen Status bedachte Klementine stets empört dagegen, âdaĂ man ĂŒber die
Parallelaktion aburteileâ (MoE 483). Unter der Hand verbirgt sich in dieser
Haltung eine stets treffende Spitze gegen ihren Mann, der erst spÀt und nur
dank einer gewissen âNachlĂ€ssigkeitâ Diotimas sowie ânach groĂen Anstren-
gungen und auf Gerdas Betreibenâ zusammen mit seiner Familie âZutrittâ
zum Salon Tuzzi erhÀlt (MoE 997).
Die bei flĂŒchtigem Blick vielleicht privat erscheinenden Ursachen fĂŒr die
ZerrĂŒttung der Ehe Fischels liegen nicht zuletzt im grassierenden Antisemi-
tismus verborgen550, der den sozialen Aufstieg des Mannes jĂŒdischer Herkunft
massiv behindert. So erwĂ€hnt der ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich, dass Leo âaus GrĂŒn-
den, ĂŒber die er niemals richtig Auskunft geben wollte, ĂŒber die Stufe eines
Prokuristen nicht wegkam und alle Aussicht verlor, jemals wirklicher Bankdi-
rektor zu werdenâ (MoE 203 ; vgl. MoE 481). Die ominösen âGrĂŒndeâ dafĂŒr,
dass âdie Laufbahn Leos zögernd auf dem Posten eines Börsendisponenten
stecken geblieben warâ (MoE 203), obwohl er sich doch stets ânach der lei-
tenden Stellungâ sehnt (M VII/8/176), sind dem Opfer des Rassismus selber
zwar so peinlich, dass er sie sich nicht eingestehen, geschweige denn sie the-
matisieren will ; sie lassen sich aber aus dem vom ErzÀhler eingenommenen
analytischen und historischen Abstand unschwer in Fischels jĂŒdischer Her-
kunft ausmachen, die in Kakanien zur Zeit des unaufhörlichen antisemitischen
Diskursterrors eine ânormaleâ Karriere des Assimilanten extrem erschwerte
oder gar verunmöglichte. Dass dies den Wiener historischen Gegebenhei-
ten nicht nur der Zwischenkriegsjahre551, sondern schon der unmittelbaren
Vorkriegszeit entspricht, bestÀtigt auch Arthur Schnitzler in einer um 1912
entstandenen und fĂŒr die Nachwelt bestimmten biografischen Notiz, in der er
betont,
550 Mehr dazu im Abschnitt zu Leo und Klementine Fischel in Kap. II.3.1.
551 Vgl. Holmes/Silverman : Zwischenraum, Zwischenzeit, S. 32.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208