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517âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Am konkreten Fall seiner Romanfigur Leo Fischel exemplifiziert Musil die
dispositionellen Auswirkungen des Antisemitismus auf die allgemeine Einstel-
lung zur Welt, die als regelrechte â wenngleich vorerst kaum merkliche â De-
formation des Opferhabitus unter dem unaufhörlichen Leiden an diskursiver
Diskriminierung beschrieben werden kann. ZunÀchst sind nur ein paar un-
scheinbare und schleichende VerĂ€nderungen alltĂ€glicher EindrĂŒcke und Ge-
wohnheiten zu beobachten :
Direktor Fischel empfand jetzt öfter als frĂŒher das BedĂŒrfnis nach frischer Luft ; nach
Schluà der Arbeit drÀngte es ihn nicht, nach Hause zu eilen, und wenn er noch bei
Tag aus seinem BĂŒro kam, liebte er es, sich ein wenig in einem der StadtgĂ€rten he-
rumzutreiben, obgleich es Winter war. Er hatte noch aus seiner Praktikantenzeit eine
Vorliebe fĂŒr diese GĂ€rten. Aus einem Grund, den er nicht einsehen konnte, hatte die
Stadtverwaltung im SpĂ€therbst die eisernen KlappstĂŒhle darin neu anstreichen lassen ;
nun standen sie frischgrĂŒn, aneinander gelehnt auf den schneeweiĂen Wegen und
erregten die Phantasie mit FrĂŒhlingsfarben. Leo Fischel lieĂ sich zuweilen auf einem
solchen Stuhl nieder, ganz allein und eingemummt, am Rand eines Spielplatzes oder
einer Promenade, und sah den KinderfrÀulein zu, die sich mit ihren Pfleglingen in der
Sonne ein Ansehen von Wintergesundheit gaben. (MoE 480)
Bezeichnenderweise ertappt sich der rationell denkende Bankprokurist, der
sogar ĂŒber die Verschwendung öffentlicher Gelder fĂŒr den unzeitigen Anstrich
von KlappstĂŒhlen sinniert, beim sentimentalen Beobachten von Kindern und
ihren Betreuerinnen im Garten und verrÀt dabei einen verborgenen Wunsch
nach infantiler Regression in die Geborgenheit des Kindes.554 Sein reales Er-
wachsenenleben in Beruf und Familie empfindet Leo hingegen als âklĂ€glichâ
(MoE 481). Er orientiert sich deshalb immer mehr an den âfestenâ Werten, wie
sie das Geld als scheinbar umstandsunabhĂ€ngige und Sicherheit verbĂŒrgende
Vergleichs- und Verrechnungseinheit darstellt :
554 In diesem Passus nimmt Magris : Arnheim und Papa Fischel, S. 146, eine âgerĂŒhrte, sehnsĂŒch-
tige Achtung vor dem individualistischen bĂŒrgerlichen Ethosâ wahr, âvon dem Fischel auf sei-
nem Spaziergang durch den Garten im Grunde endgĂŒltigen Abschied nimmt. Vielleicht ist
die humanistische Kultur des alten Europa nirgendwo so sublim, so voller pietas und Schwer-
mut, in so vollem BewuĂtsein ihrer Werte verabschiedet worden, wie auf diesen Seiten Musils.
Hier erscheinen diese Werte von jedem KompromiĂ mit der Logik der Macht gereinigt, sie
erscheinen sozusagen in ihrer Essenz, als humanistisches MaĂ des Individuums. [âŠ] Diese
Werte verkörpern sich ein letztesmal und verabschieden sich zugleich nicht in der Gestalt eines
hypersensiblen KĂŒnstlers oder eines unternehmenden Tatmenschen, sondern in der âDurch-
schnittsgestaltâ eines jĂŒdischen Bankprokuristen.â Was Magris hier freilich unterschlĂ€gt, ist Fi-
schels spĂ€tere Entwicklung just zum âTatmenschenâ (MoE 1552).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208