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519âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
[O]bgleich das weit ĂŒber seinen Bedarf an Philosophie hinausging, so begann er, von
seiner LebensgefÀhrtin im Stich gelassen, als alternder Mensch, der keinen Grund
einsah, von der vernĂŒnftigen Mode seiner Jugend abzulassen, die tiefe Nichtigkeit
des seelischen Lebens zu ahnen, seine Gestaltlosigkeit, die ewig die Gestalten wech-
selt, die langsame, aber ruhelose UmwÀlzung, die immer alles mit sich dreht. (MoE
207)
Weniger harmlos sind die handlungspraktischen Konsequenzen, die der Ăko-
nom aus solchen Erkenntnissen zieht. So verneint Fischel in einem GesprÀch
mit Ulrich, das allerdings nur im Kapitelentwurf âHans Sepps Briefeâ aus den
nachgelassenen Kapitelgruppen-EntwĂŒrfen ĂŒberliefert ist, dass âman auf die
Gesinnung, die Liebe, die Ideale eines Menschen bauenâ könne, und erlĂ€utert :
Ideale sind wie Luft, die sich verĂ€ndert, du weiĂt nicht wie ; bei geschlossenen Fen-
stern ! Hat man vor 25 Jahren eine Ahnung vom Antisemitismus gehabt ? Nein, man
hatte die groĂen Gesichtspunkte der HumanitĂ€t ! Sie sind zu jung. Ich aber habe noch
einige groĂe Parlamentsdebatten gehört. Die AusklĂ€nge ! VerlĂ€Ălich ist nur, was man
in Ziffern ausdrĂŒcken kann ! Glauben Sie mir, die Welt wĂ€re viel vernĂŒnftiger, wenn
man sie einfach dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage ĂŒberlieĂe, statt sie mit
Panzerschiffen, Bajonetten, wirtschaftsfremden Diplomaten und sogenannten natio-
nalen Idealen auszurĂŒsten. (MoE 1496, nach M II/1/92)
Als Ulrich diesen Ăberlegungen entgegenhĂ€lt, âdaĂ doch gerade die Schwer-
industrie und die Banken durch ihre AnsprĂŒche die Völker zu RĂŒstungen an-
treibenâ, rechtfertigt Fischel, der frĂŒher âfeste moralische Werte sogar höher
bewertet [hat] als eine feste Börseâ, auch solche Spekulationen auf die âniede-
ren Instinkteâ : âWenn die Welt ist, wie sie ist, und am hellen Tag in Narrenkos-
tĂŒmen herumlĂ€uft, sollen sie nicht damit rechnen ? Wenn nun einmal MilitĂ€r
fĂŒr Zollverhandlungen oder gegen Streikende gut ist ? ! Wissen Sie, das Geld
hat seine eigene Vernunft, damit lĂ€Ăt sich nicht spaĂen !â (MoE 1496, nach M
II/1/92)558 Den Kapitelgruppen-EntwĂŒrfen zufolge sollte Fischel im Selbst-
558 Wie an den unterschiedlich triftigen Argumenten der beiden ersichtlich wird, handelt es
sich bei Ulrichs EinwĂ€nden gegen den eklatanten Ăkonomismus Fischels keineswegs bloĂ
um âmoralische Kritikâ, die âder ĂŒberlegenen âVernunftâ des Marktes und des Geldesâ nicht
standhÀlt, wie Blaschke : Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 293, in Anlehnung an
Luhmanns provokanten âAntimoralismusâ etwas reflexhaft meint (denn das liefe auf eine krude
âSoziodizeeâ hinaus), sondern um kĂŒhle Gesellschaftsanalyse. Klar ist jedenfalls, dass die âKa-
nonen- und Panzerplattenfabrikâ Arnheims, der auĂerdem âfĂŒr den Ernstfall auf ungeheure
Munitionserzeugung eingerichtetâ ist (vgl. MoE 404), sowie die âMordproduktionâ der Familie
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208