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522 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
jeden Zweifel erhabenen Autors â und nicht als solche zu bedauern, wie es
vorderhand wirken mag. Sie ist aber auch keine ambivalenzfreie romaninterne
Verkörperung der âReinform des homo oeconomicusâ im Sinne eines erstaun-
lich âerfolgreichen und recht sympathischen Typ[s]â565, wie Bernd Blaschke in
seiner âkapitalismusaffirmativenâ566 Interpretation suggeriert. Auf paradigma-
tische Weise und recht anschaulich fĂŒhrt sie vielmehr die soziale Erzeugung
einer scheinbar ârassischâ begrĂŒndeten charakterlichen âEigenschaftlichkeitâ als
Konsequenz unaufhörlichen antisemitischen Diskursterrors und sozialer Dis-
kriminierung vor Augen.567 Fischels bedauerlicher Charakterwandel, der in
den FortsetzungsentwĂŒrfen des Jahres 1936 ausdrĂŒcklich wieder aufgegriffen
und weiter vorangetrieben wird (vgl. MoE 1387â1390), entspringt nicht dem
essayistischen Experimentieren eines zukunftsoffenen âMöglichkeitssinnsâ,
sondern erweist sich im Gegenteil als konsequentes Resultat einer brutalen
und systematischen Vernichtung von Möglichkeiten.
AbschlieĂend sei nachdrĂŒcklich darauf hingewiesen, dass Musil trotz seiner
kritischen Darstellung der Ideale des GrĂŒnderzeitliberalismus in der Person Leo
Fischels nicht dazu neigt, den gut zehn Jahre nach ihm auch von Stefan Zweig
diagnostizierten âoptimistischen Wahn jener idealistisch verblendeten Genera-
tion zu belĂ€cheln, der technische Fortschritt der Menschheit mĂŒsse unbeding-
terweise einen gleich rapiden moralischen Aufstieg zur Folge habenâ568. Im Ge-
genteil : 1933 hĂ€lt er auf dem âStudienblatt Soziale Fragestellungâ fest, dass sich
in der geplanten Romanfortsetzung so unterschiedliche Figuren wie Leinsdorf,
Meingast und Lindner schon vor Kriegsbeginn angesichts der schwelenden so-
zialen und nationalen Unruheherde Kakaniens fĂŒr eine politisch-ideologische
âGleichschaltungâ aussprechen, wĂ€hrend SchmeiĂer und Leo Fischel dem
politischen âLiberalismusâ die Treue halten sollten (MoE 1865 f.). Dement-
sprechend heiĂt es in einer Studie zum Problemaufbau von 1936 mit Blick auf
die Hysterie nach âKriegsausbruchâ : âLeo Fischel, die Stimme der Vernunft,
wird abgekanzelt.â (MoE 1902, nach M II/2/15) Der liberale jĂŒdische Bank-
prokurist sollte im allgemeinen Taumel offenbar fast als einziger kĂŒhlen Kopf
bewahren.569 Bereits in einem frĂŒhen Studienblatt, in dem schon Notizen zur
565 Blaschke : Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 301.
566 Vgl. ebd., S. 390.
567 Vgl. Fanta : Die Totalinversion der Nebenfiguren, S. 247 : âUnter dem sozialen Transformati-
onsdruck wird der AuĂenseiter und Assimilant Fischel wieder auf sein EinzelgĂ€ngertum, auf
IdentitĂ€tszuschreibungen des Juden zurĂŒck geworfen.â In eine Ă€hnliche Richtung zielt die Ar-
gumentation von Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 317.
568 Zweig : Die Welt von Gestern, S. 17.
569 Gemeint ist damit aber wohl keineswegs ein Lob des Spekulantentums, wie Blaschke : Der
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208